Stellen Sie sich vor, man könnte zielgerichtet für jede Krankheit das passende Medikament entwickeln. Grundsätzlich ist das denkbar: Ein auf die Merkmale des Erregers abgestimmtes Molekül könnte sich daran heften und ihn bekämpfen. Nur: Wie sieht das wirksamste Molekül aus, welches haftet länger als andere? Es gibt zu viele Möglichkeiten, um sie alle einzeln im Labor durchzuprobieren.

Dass bei solchen Problemen künstliche Intelligenz helfen könnte, ist schon lange klar.  Fast immer, wenn jemand darlegen möchte, was selbstlernende Computerprogramme alles so können, kommt das System Alphafold in der Aufzählung vor. Und nun meldet Google DeepMind, die Firma hinter dieser KI, einen neuen großen Durchbruch.

Alphafold kann auf Basis einer DNA-Sequenz berechnen, welche 3D-Struktur das Molekül einnehmen wird, das der Körper mit diesem Bauplan bildet – und damit auch, was es bewirken wird. Für Molekularbiologen ist das ein aufregendes Versprechen. Denn die Form von Proteinen mit ihren komplexen Faltungen exakt und schnell vorhersagen zu können, führt nicht nur zu einem tieferen Verständnis biologischer Organismen, sondern ist möglicherweise auch der Weg zu Nutzpflanzen, die gegen Schädlinge immun sind, immer neuen Antibiotika oder der Heilung von Krebs. 

Alphafold 3 heißt die neue Version des Systems, die DeepMind am Mittwoch im Fachmagazin Nature vorgestellt hat. Die große Neuerung ist, dass sie nicht nur die Form von Proteinen berechnen kann. Vielmehr soll sie nun vorhersagen können, wie Proteine mit weiteren Molekülen wechselwirken. Dabei geht es einerseits um andere Proteine, aber auch um DNA- und RNA-Stücke sowie sogenannte small molecules, die in der Arzneimittelforschung eine große Rolle spielen.   

"Ein aufregender Moment"

Schon wie vor knapp vier Jahren bei der letzten Version sprechen sowohl KI-Forscher als auch Proteinexperten von einem wichtigen Durchbruch.

"Es wird sich alles ändern", sagt Andrei Lupas, Direktor und wissenschaftliches Mitglied am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen. Schon damals, als Alphafold2 herauskam, sei er in den Medien mit diesem Satz zitiert worden. "Das kann ich Ihnen jetzt genauso sagen: Unsere gesamte Pharmakologie beruht auf der Bindung von kleinen Molekülen an Proteine. Jetzt können wir anfangen, die Pharmakologie umzukrempeln." 

"Es ist ein aufregender Moment", sagt auch Jan Kosinski, der am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL) in Hamburg eine Forschungsgruppe leitet, die an KI-basierter Berechnung von Viren forscht. Kosinski testet das neue System seit nunmehr zwei Tagen. Eigentlich hat er durch den Feiertag an Christi Himmelfahrt frei, trotzdem würde er seit der Veröffentlichung kaum etwas anderes tun, als damit zu experimentieren. "Wir versuchen noch, herauszufinden, was genau Alphafold 3 alles kann. Aber das, was ich schon jetzt gesehen habe, ist toll: Es ist unglaublich schnell. Es funktioniert für viel größere Moleküle als vorher. Und es funktioniert auch sehr gut für DNA."