Von den Umständen zerdrückt wie eine überreife Mango stand ich auf einem Parkplatz in der niederbayerischen Ödnis. Es war irgendwann im April. Der Schweiß schwemmte mir den Lichtschutzfaktor 50 vom Gesicht. Doch als ich das Gemisch von meiner Haut wischen wollte, rieb ich es mir nur noch tiefer in die Augen. 

Heftig blinzelnd blickte ich meiner Zukunft entgegen.

Vor mir sah ich den Haslinger Hof. Wie ein abgeschlachteter Transformer lag er in der Gegend. Ein sogenannter Erlebnishof bestehend aus gut einem Dutzend Bauernhäusern, Scheunen und Hütten. Teilweise hundert Kilometer entfernt waren sie abgetragen und hier wieder aufgebaut worden. Eine Fusion aus Viersternehotel mit Wellnessbereich, Restaurants, Marktverkauf und Streichelzoo. Außerdem: Bayerns größten Tanzstadl. Und dafür war ich hier.

Der Haslinger Hof ist wie eine nie endende Ü50-Party. © Fritz Beck für ZEIT ONLINE

Hunderte kommen jeden Tag in den Haslinger Hof, viele Paare, noch mehr Singles. Sie wollen tanzen, sie wollen flirten, und wenn es funkt, dann sicherlich auch mehr. Mein Vater ist schon hier gewesen, als das mit seiner (zweiten) Ehefrau noch ein Geheimnis war. Mein daueralleinstehender Onkel auch. Einzigartig sei dieser Ort, hatte er mir zuvor erzählt. Wie eine Ü50-Party, die niemals endet.

Vor gut zwei Wochen war ich dreißig geworden. Ich war noch immer, nun ja, ledig, alleinstehend, Single, Junggeselle, whatever, so wie jeder dritte Mensch zwischen 18 und 64 in Deutschland auch. Die Chance, dass es so bleiben würde, dachte ich, war nicht nur gegeben, sie war groß. All die Zukunft, all die Wünsche, die penetrant in meinem Hinterkopf waberten (gemeinsam weinen, lachen, wohnen, schlafen, zu oft Aperol trinken und Kinder halt); vielleicht würden sie nie passieren.

Heute wollte ich meine Angst verlieren, allein alt zu werden.

Die Partnerportale Parship und ElitePartner fragen jedes Jahr unter Singles herum. Die Zahlen sind nicht perfekt, aber der beste Anhaltspunkt, den es gibt. Demnach befürchten zwei Drittel aller Singles, den oder die richtige:n Partner:in nicht mehr zu finden. Menschen unter 40 (81 Prozent) haben viel mehr Angst als die über 50 (57 Prozent).

Die letzte Zahl ließ mich stutzig werden. Wieso waren die sogenannten Best Ager gelassener, wenn sie doch faktisch weniger age übrig hatten? Vielleicht konnte ich von ihnen etwas lernen.

DER HASLINGER HOF

Rausgeputzt haben sie sich. © Fritz Beck für ZEIT ONLINE
© Fritz Beck für ZEIT ONLINE

An mir vorbei strömten Gäste zum Eingang. Alle wirkten hervorragend gelaunt. Die Frauen trugen fesche, teils wallende Stoffkleider, die aussahen, als hätten sie sie in Geschäften mit den Namen der Besitzer:in drauf gekauft. Moni's Schatzkiste, oder so. Die Männer wiederum hatten rote Köpfe.

Drinnen gab es vier Tanzbereiche, alle sahen sie aus wie eine Heimatfilmkulisse aus den Sechzigern (karierte Tischdecken, viel Holz, random Wagenräder, Schnapsbrennanlagen, Ornamente und so was). In einem Raum spielte ein Alleinunterhalter mit dem Namen Luis Alpin. 

Man lernt hier viele Frauen kennen.
Edwin

Weil es dort noch eine Feuershow geben sollte, ging ich erst einmal auf die Außentanzfläche. Die war etwa zur Hälfte gefüllt mit Menschen, die unschuldig und sich sorgfältig abtastend über den Marmor glitten. Beobachtet wurden sie von am Rand sitzenden Pärchen und kleinen Frauengruppen von zwei bis dreien. Die Männer saßen oft allein da, sie beobachteten wiederum die Frauen. Alle paar Lieder gab es eine kurze Pause. In der nahmen sich eine Handvoll Männer ein Herz, gingen auf die Frauengruppen zu, lächelten, streckten einer die Hand hin.

Edwin war einer dieser Männer. Er trug ein weißes Hemd mit Kragen bis unter die Ohren. Die Knöpfe hatte er sich bis unter die Brust aufgemacht. Durch ganz Bayern sei er heute hergefahren, erzählte Edwin, ganze drei Stunden mit dem Wohnmobil. Der Weg sei es allesamt wert gewesen, er tanze ja so gern. "Und bleibt's beim Tanzen?", fragte ich. Edwin lachte und zwinkerte mir verschwörerisch zu. "Man lernt hier viele Frauen kennen." Danach nahm er einen großen Schluck Bier, strich sich mit dem kalten Glas über seine glattrasierte, braun gebrannte Brust und erklärte mir, wie das Flirten mit knapp 60 so läuft. 

Flirten, tanzen, und wenn es gut läuft, vielleicht auch mehr. © Fritz Beck für ZEIT ONLINE

Im Alter gehe es auch ein wenig um Effizienz, und das Paartanzen sei dafür perfekt, sagte er. Man merke sofort, ob man zusammenpasse, so körperlich, ob man sich riechen könnte und ob der andere reden könne. Die Gespräche liefen eigentlich immer ähnlich ab. Small Talk über Wohnort, Beruf, den nächsten Urlaub. Wie geht's dem Haus? Wie geht's den Kindern? Als er noch jung gewesen sei, habe es noch viel mehr Zwischentöne gegeben, sagt Edwin. Mit den Jahrzehnten sei das verschwunden.

Im besten Fall merke man ziemlich schnell, ob eine Frau nur tanzen wolle oder mehr. Im schlechtesten Fall habe man einen netten Tanz – und nach einem Lied dann Goodbye. Als ich sagte, das klinge, als sei er gern Single, schaute Edwin mir in die Augen. 

Ich schaute zurück. 
Edwin schaute.
Ich schaute.

Dann nickte Edwin kurz und zackig.

Warum wollen wir so etwas wie Liebe überhaupt? Der Philosoph Simon May schreibt in seinem Buch Love: A History, dass wir lieben, was uns das Gefühl gibt, sowohl in uns selbst als auch in der Welt zu Hause zu sein.

Sie sei die Bestätigung, dass wir dazugehören, dass wir existieren. Aber, und das schreibt May auch, Liebe halte nur so lange an, wie die Menschen, die wir lieben, uns diesen Halt versprechen. Liebe ist selbstsüchtig und fragil.

Und weil Gefühle so fragil sind, haben viele Menschen Angst. Wir haben Angst, keine Liebe zu erleben. Und wenn doch, dann haben wir Angst, sie wieder zu verlieren. Deswegen reden wir andauernd über Liebe. Deswegen treffe ich fremde Leute, über die ich vorher NICHTS, WIRKLICH NICHTS weiß, außer dass auf ein Date wahrscheinlich kein zweites folgen wird. Die Liebe sei der einzige universelle Glaube, den alle Menschen teilten, schrieb Heidi Cobham im Journal of Philosophy of Life. Gläubige, Heiden und der ganze Universum-Vorbestimmtheit-Quatsch-Rest, auf nichts können wir uns einigen, nur auf das.

Die Menschheit, eine niemals endende Staffel Sex and the City.

FLIRTEN MIT 60

Erlebnishof, die Betonung ist auf Erlebnis. © Fritz Beck für ZEIT ONLINE

Draußen begann die Feuershow. Ich hatte zumindest auf Feuerspeier gehofft und war enttäuscht. Die Show bestand eigentlich nur aus etwa zehn Menschen in Kutten, die angezündete Dinge kreisen ließen oder sie einfach nur trugen. Was mein zynisches Arschlochherz trotzdem erwärmte, war die pure Freude, mit der die Leute um mich herum ihre Handyhüllen aufklappten und vorsichtig mit ihren Zeigefingern auf Aufnahme drückten.

Ich fragte unter den Nichtschaulustigen herum. 

Was zeichnet Ihre Partnerschaft aus?
Wir fahr'n gern Radl und spazier'n.  

Hatten Sie mal Angst davor, allein alt zu werden? 
Ich hab mit 20 geheiratet. Wir Frauen waren nicht so gut ausgebildet wie heute. Du musstest heiraten, um versorgt zu sein.

Mussten Sie nach Ihrer Scheidung das Alleinsein lernen?
Da war das letzte Problem. Da war i moi froh, dass a Ruah war. 

Bruno und Katerina, die Hasliner-Ultras © Fritz Beck für ZEIT ONLINE

Ich sprach mit einem Pärchen, Bruno (56) und Katerina (46), die ein glitzerndes rotes Kleid trug. 60 habe sie insgesamt, sagte sie. Beide waren seit 14 Jahren zusammen, sie hatten sich beim Tanzen kennengelernt. 

Bruno: Sie ist ins Lokal reingekommen, und ich dachte sofort: WOW.
Katerina: Meine Freundinnen hatten mich mitgeschleppt. Die Jahre davor hatte ich nur gearbeitet und Abendschule. Er war der erste, der mich aufgefordert hat.
Bruno: Wir haben dann Telefonnummern ausgetauscht. 
Katerina: Er wollte immer nur tanzen gehen, irgendwann ist der Funke übergesprungen.
Bruno: Du bist nicht nur hübsch, du bist auch fleißig. Eine fleißige Biene. 

Dann drehte sich Bruno zu mir, seine Augen aufgerissen vor Begeisterung.

Bruno: Sie macht die besten Patchworkdecken auf der Welt.

Seit über zehn Jahren kämen sie nun zum Tanzen hierher, erzählten sie. Alle paar Wochen, aus dem tiefsten Österreich. Ein paar Tage zuvor hatte Bruno sich extra ein Auto angeschaut. Elektrisch, sagte er, 230 PS. Dann schaute er an mir vorbei zu Katerina.