Der größte Tag in der Karriere von Anders Vejrgang beginnt mit einem Tor und Tränen. Er hat sich durch das Mittelfeld seines Gegners kombiniert, der ihm gegenübersitzt, und endlich zum 1:0 getroffen. Anders, ein sehr blonder, sehr schmaler Junge mit rundem Kopf, springt aus seinem schwarz-roten Gamingstuhl und brüllt vor Erleichterung den Bildschirm auf Dänisch an: "Jaaaa! Kom nu, komm schon!" Dann schaut er zu seiner Mutter auf der Tribüne, legt sein Gesicht in die Hände und weint.

Es ist ein Sonntagmittag Ende März in einer einstigen Telefonkabelfabrik in Köln-Mülheim, die seit zwei Jahren Lukas Podolski gehört und "Straßenkicker Base" heißt. In den Fußballhallen riecht es nach Kunstrasen und Dönerspießen, die sich im Imbiss am Eingang drehen. Hier spielt Anders das letzte Vorrundenspiel am Finalwochenende der Virtual Bundesliga, der Deutschen Fußballmeisterschaft an der Konsole. RB Leipzig gegen den Hamburger SV. Anders trifft für Leipzig auf einen Hamburger Studenten, der acht Jahre älter ist als er und nach dem Tor ungerührt weiterspielt. Anders aber spielt unerklärliche Fehlpässe, versiebt eine Chance auf das 2:0. In der letzten Minute kassiert er den Ausgleich. Tausende verfolgen und kommentieren im Livestream auf der Videoplattform Twitch, wie er nach Abpfiff aus der Halle taumelt, wieder weinend, im Arm seines Trainers.

IWMG_Marc: ohgott der arme eyy
derSALU: da sieht man wie viel druck die Jungs haben hoffe anders geht nicht dadurch kaputt...
Razerado: nein anders digga bitte wein jetzt nicht du warst so stark was soll man machen

Anders Vejrgang ist ein Neuntklässler aus Hjørring, einer Kleinstadt in Nordjylland. Und er ist einer der bekanntesten Gamer der Welt, obwohl er erst seit seinem 16. Geburtstag Ende Januar bei offiziellen Turnieren antreten darf. Er hat in der Pandemie von seinem Kinderzimmer aus Rekorde bei Onlineturnieren der Fußballsimulation Fifa gebrochen. Das Spiel gibt es seit Mitte der Neunziger, jedes Jahr erscheint eine neue Version. Mit Millionen aktiven Spieler:innen ist Fifa eine der erfolgreichsten Videospielserien aller Zeiten. Und neben denen, die nach Feierabend oder während der Onlinevorlesung mit virtuellen Neymars zaubern wollen, gibt es längst eine Profiszene mit Vereinen und Stars, die Fifa in Vollzeit zocken.

Kinderstar: Mit zwölf spielte Anders sein erstes Turnier – und besiegte den dänischen Meister mit 4:1. © Rafael Heygster/​ZEIT ONLINE

Anders' Social-Media-Kanälen folgen mehr als eine Million Menschen. Für viele in der mit Superlativen nicht sparsamen Szene ist er ein Fußballgott, oder schon der GOAT, der Greatest Of All Time. Andere sehen in ihm ein arrogantes, überhyptes Kind, und schauen seine Spiele nur, um ihn verlieren zu sehen. Den Gefallen tut er ihnen selten.

Es braucht keinen Psychologen, um festzustellen: Das sind reichlich Projektionen für einen 16-Jährigen. Wie ist ihm das passiert, und was fängt Anders damit an?

Leipzig im Februar, einen Monat vor dem Finalturnier in Köln. Das Trainingsgelände des Fußballklubs RB Leipzig liegt verlassen in der Wintersonne, das von Red Bull gegründete Bundesligateam ist für ein Europapokalspiel ins Baskenland geflogen. Anders und seine Mutter sind in der Nacht mit dem Auto aus Dänemark angekommen. Er streckt sich und gähnt. Seit zwei Jahren ist er beim sechsköpfigen Gamingteam der Leipziger unter Vertrag, bisher war er aber nur für ein paar Tage hier, Pressetermine. Am Abend soll er endlich sein erstes Bundesligaspiel machen. "Wunderkind Anders Vejrgang vor eSports-Debüt – die Szene zittert", schreibt Sport1.

Das Hauptgebäude des RB-Trainingszentrums sieht aus wie eine gerade eingeweihte Unibibliothek in Erfurt oder Gießen, wäre da nicht der riesige rote Bulle an der Fassade. Davor setzt sich Anders etwas kraftlos an einen Tisch. In der nächsten Stunde schaut er bei Fragen meistens auf seine Nike Air Max Bolt oder den Bund seiner schwarzen Jogginghose. Sein leises Englisch ist gut, doch er spricht selten mehr als fünf Worte am Stück und antwortet wahlweise mit "no", "I don’t remember" und "just want to win"

So erzählen die beiden neben ihm Sitzenden seine Geschichte: Seine alleinerziehende Mutter Laila, die in einem Autohaus arbeitet und ein paar Ironmans absolviert hat. Und sein Manager Daniel Luther, der früher Weltmeister im Ego-Shooter Call of Duty war und heute, mit 31, eine der umtriebigsten Figuren in der deutschen Szene ist: Er betreut mit seinem Unternehmen KiNG eSports etwa 50 Profi-Gamer und ist Präsident des Deutschen eSport-Bundes. Ein paarmal lachen alle zusammen über Anders karge Antworten.