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Vor den Fenstern hängen Rollos, Tageslicht fällt nur durch Schlitze auf die Fliesen. Eigentlich ist es kühl hier unten im Erdgeschoss, im Gegensatz zu draußen, wo die Hitze gegen die Scheiben drückt. Doch Frau Derscheid schwitzt. Die Arme schlaff neben dem Bauch starrt sie aus ihrem Pflegebett an die Wohnzimmerdecke. 

"Sie sind ja ganz klebrig", sagt Parvin Aghaei-Mazaheri und streicht Frau Derscheid über den Kopf, "und ihre Haare sind auch ganz nass." Sie tunkt einen Waschlappen in die Plastikwanne neben sich, wringt ihn aus und wischt über Frau Derscheids weiche, knittrige Haut. Sie kämmt ihr das graue Haar und zieht ein frisches Shirt aus einer Schublade. "Gefällt Ihnen das?" Sie hält es hoch. Frau Derscheid senkt ihr Kinn und nickt. 

Parvin Mazaheri ist ambulante Altenpflegerin und Maria Derscheid ihre letzte Patientin an diesem Dienstag, dem bisher heißesten Tag des Jahres. 32 Grad Celsius misst das Thermometer unter der Markise vor Derscheids Haus im Kölner Süden. Es ist erst 11 Uhr morgens. 38 Grad werden es am Nachmittag sein. 

Maria Derscheid hat Multiple Sklerose, Pflegegrad 5. Arme und Beine kann sie nicht heben, die meiste Zeit verbringt sie in ihrem Bett in der Mitte des Wohnzimmers, eingeparkt zwischen Blumengemälden, Perserteppichen und einem Tischchen voller Medikamente, Pflaster und Cremes. Manchmal hieven ihr Mann oder Parvin Mazaheri sie in einen Rollstuhl aus schwarzem Kunstleder. Vom vielen Liegen hat sie eine Wunde am Gesäß, die nicht mehr heilt und juckt. Und jetzt auch noch die Hitze.  

"Wenn es so warm ist wie heute", sagt Derscheid, "spüre ich meinen ganzen Körper. Jeden Hauch auf der Haut." Sie macht eine Pause, befeuchtet ihre Lippen. "Meine Muskulatur ist empfindsam, wissen Sie? Seit 24 Stunden habe ich durchgehend Schmerzen." 

Hitzetage sind anstrengend. Ganz besonders für alte, vorerkrankte Menschen. Hitzetage wird es in Zukunft immer häufiger geben. Klimaforscher rechnen in den kommenden Jahrzehnten mit mehr, längeren und intensiveren Hitzewellen. Was bedeutet das für alte Menschen? Und für diejenigen, die sie pflegen? 

Parvin Mazaheri begann ihre Ausbildung in Teheran, als sie 18 war. Wegen des Krieges im Iran floh sie nach Deutschland und wurde Altenpflegerin. © Marcus Simaitis für ZEIT ONLINE

Parvin Mazaheri, 58 Jahre alt, hat an diesem Dienstag eine Frühschicht wie an vielen Dienstagen zuvor. Wie immer ist sie um 4.45 Uhr aufgestanden, hat eine weiße Stoffhose angezogen und den kleinen Firmenwagen ausgeparkt. Sie ist über die Autobahn ins Büro gefahren, um den Korb für ihre Tour zu holen. Darin Handschuhe, Masken, Medikamente, ein Beutel voller Schlüssel und am wichtigsten: ein Zettel mit Adressen, Uhrzeiten und Aufgaben. Ihr Tagesplan. 

Als ambulante Pflegerin besucht Mazaheri ihre Patienten zu Hause. Ihre Liste an Aufgaben ist lang: Sie wäscht Gesichter, schmiert Deo in Achselhöhlen, wechselt Windeln, kippt Urin weg, spritzt Insulin, verteilt Medikamente, wickelt Verbände. An Tagen wie heute reicht das nicht. Die Hitze stellt neue Bedingungen an Mazaheris Arbeit. 

Um 7.06 Uhr misst sie den Blutzucker von Patientin Nummer 6. Auf Mazaheris Aufgabenzettel hat ihr Chef eine Notiz geschrieben: "Bitte Patientin daran erinnern, zu trinken!!!" 

Um 7.37 Uhr weckt sie Patientin Nummer 8. Sie sperrt die Fenster auf und drückt ihr ein Wasserglas mit Calcium in die Hand: "Trinken Sie das." Die Patientin nippt zweimal, stellt das Glas ab, guckt raus ins Grüne. Mazaheri schließt die Balkontür und lässt die Rollläden ein Stück runter. Sie muss weiter. 

Um 8.30 Uhr spaziert Patient Nummer 10 gerade mit seinem Rollator in die Sonne davon. Mazaheri sprintet ihm hinterher. Er muss seine Tabletten nehmen. Aus dem Hauseingang ruft seine Frau: "Lassen Sie den Mann doch laufen! Der muss raus, sonst dreht der durch." Mazaheri runzelt die Stirn und reicht ihr die Tablettendose. 

Und um 10.40 Uhr zieht sie Frau Derscheid die schwitzigen Kleider über den Kopf. Sie will ihr kein Unterhemd anziehen. Derscheids Mann protestiert: "Doch, das saugt den Schweiß auf", ruft er vom Sofa, "ein Unterhemd gehört immer an." 

Ans Trinken erinnern, stoßlüften, dünne Kleidung anziehen, Räume abdunkeln, mit Ehepartnern diskutieren. Aufgaben wie diese kommen vermehrt hinzu, an einem heißen Tag wie heute. Meistens stehen sie nicht auf Mazaheris Liste, sie hat sie im Kopf. Oft sind es nur kleine Handgriffe, kurze Gedanken. Erst in ihrer Summe machen sie sich bemerkbar. Mazaheri sagt: "Viele alte Menschen sehen die Gefahr der Hitze nicht. Sie machen einfach so weiter wie immer." 

Verbandswechsel: Viel Zeit für Hitzeextras bleibt nicht in Mazaheris Tagesplan. © Marcus Simaitis für ZEIT ONLINE

Dass Hitze für ältere Menschen eine Gefahr ist, hat verschiedene Gründe. Das natürliche Kühlsystem ihres Körpers funktioniert zum Beispiel nicht mehr so gut: Sie schwitzen weniger, ihre Haut ist schlechter durchblutet. Dadurch gibt sie weniger Wärme ab. Mit dem Alter schwindet außerdem das Durstgefühl. Der Körper trocknet schneller aus, verliert wichtige Salze. Kopfschmerzen, Verwirrung, Benommenheit können folgen, Stürze, Dehydration. 

Ältere Menschen werden bei Hitze häufiger ins Krankenhaus eingeliefert. Bei Vorerkrankungen können sich Symptome verschlimmern. Das Robert Koch-Institut schätzt, dass zwischen 2018 und 2020 rund 19.300 Menschen hitzebedingt verstarben. Besonders unter den über 75-Jährigen gab es in diesen drei sehr heißen Sommern überdurchschnittlich viele Tote. Das zeigen auch Recherchen von ZEIT ONLINE.  

"Die große Gefahr ist: Viele sind den ganzen Tag allein", sagt Mazaheri. Sie und ihre Kollegen fahren bei Patienten ein, zwei, vielleicht dreimal am Tag vorbei. "Man müsste sie aber noch viel mehr beobachten." Viel Zeit für Hitzeextras bleibt ohnehin nicht in Mazaheris Tagesplan. Zumindest theoretisch. Auf die Minute genau ist jeder Besuch getaktet. Und auch in den Leistungskatalogen der Pflegekassen existieren keine Einheiten wie "Lüften" oder "nach dem Rechten schauen". Pflegedienste können sie nicht abrechnen. Für ihre Angestellten ist es ein Balanceakt: zwischen dem, was sie geben wollen und dem, was sie geben können. 

Parvin Mazaheri versucht, sich Zeit zu nehmen. Wenn es mal länger dauert, drückt sie bei der nächsten Fahrt aufs Gaspedal oder ruft an, dass sie später kommt. "Die Patienten sollen nicht merken, dass ich unter Zeitdruck stehe", sagt sie. "Wenn ich da bin, will ich ihnen auch etwas geben." Also lächelt Mazaheri, sie streichelt über Arme, nennt ihre Patienten "Liebchen".

24,7 Kilometer legt Parvin Mazaheri an diesem Tag zurück. © Marcus Simaitis für ZEIT ONLINE

Sie sagt: "Ich liebe diesen Beruf. Ich verstehe die alten Leute, die haben auch einen Krieg erlebt." Seit vierzig Jahren pflegt Mazaheri Kranke, Verletzte, Alte. Menschen mit Ängsten und Schmerzen. Mit 18 begann sie in Teheran ihre Ausbildung zur Krankenschwester, erzählt sie. Wegen des Krieges im Iran wurde sie nie fertig, floh nach Deutschland, wurde Altenpflegerin.

Um 9.15 parkt sie vor einem Mehrfamilienhaus am Rhein. Der Fluss liegt flach in seinem Bett, die Blätter hängen still an ihren Zweigen. Patient Nummer 14, ein Mann mit Parkinson, wohnt im dritten Stock. Der Aufzug ist kaputt. "Muss der genau heute außer Betrieb sein?", stöhnt Mazaheri und zupft an ihrer Bluse, um sich Wind zuzufächeln. Sie nimmt die Treppen.