DIE ZEIT: Lord Frost, Sie sind ein altgedienter Tory-Politiker, Sie waren unter Boris Johnson der Brexit-Minister. Vor einigen Monaten warnten Sie Ihre Partei: Sie müsse sich ändern, um zu vermeiden, dass nur "rauchende Trümmer" von ihr übrig blieben. Nun haben die Torys nur noch 121 von 650 Sitzen im Unterhaus. Was ist schiefgelaufen?

Lord David Frost: Wir haben aufgehört, eine konservative Partei zu sein. Mehr als die Hälfte der Gesamtwählerstimmen haben wir verloren – ein Teil ging an Labour, aber noch mehr Stimmen an die Reform-Partei, die rechts von uns steht. Das ist das eigentliche Desaster. Der Ausweg muss jetzt sein, eine breite neue Koalition aufzubauen, die auf echte konservative Ideen setzt.

ZEIT: Was wären das für Ideen?

Frost: Freie Marktwirtschaft und nationale Geschlossenheit. Eine moderne Industriepolitik ist mit einem Linksschwenk, der dem Staat mehr Macht gibt, nicht zu machen. Und wir müssen Vertrauen aufbauen in einen wiederbelebten Nationalstaat nach dem Brexit, der seine Grenzen schützen und sein Regierungssystem reformieren kann, unter anderem durch Deregulierung. Das alles sind keine unpopulären Ideen. Das Problem ist bloß, dass die Torys so unpopulär geworden sind.

ZEIT: Boris Johnson hatte es geschafft, Wähler in der Arbeiterschicht in Nordengland ebenso anzusprechen wie traditionelle Konservative in Südengland. Wie ist dieser breite Zuspruch abhandengekommen?

Frost: Viele Menschen in den traditionell "roten" Wahlkreisen im Nordengland haben im Grunde konservative Werte und Lebensstile. Sie hatten allerdings immer schon ein Problem mit der Marke Tory, vor allem wegen der Deindustrialisierung unter Margaret Thatcher. Der Brexit, den viele von ihnen unterstützten, sowie der weit links stehende damalige Labour-Chef Jeremy Corbyn lieferten ihnen 2019 dann einen Anlass, die Konservativen zu wählen. Unser fundamentaler Fehler war, zu glauben, dass wir diese Ex-Labour-Wähler mit Labour-ähnlicher Politik bei der Stange halten müssten, unter anderem durch hohe Staatsausgaben während der Pandemie. Außerdem haben wir bei jeder Wahl versprochen, die Zuwanderung zu reduzieren, und es nicht getan. Das Resultat? Diese Leute entscheiden sich nun für die Reform-Partei.

ZEIT: Sie haben die Einwanderung sogar durch erleichterte Visavergaben auf Rekordhöhen getrieben. Allein in den vergangenen zwei Jahren kamen netto ungefähr 1,5 Millionen Menschen nach Großbritannien, die allermeisten aus Nicht-EU-Staaten. Warum?

Frost: Während der Pandemie hatten eine Menge EU-Bürger Großbritannien verlassen, und wir waren nicht sicher, wie viele von ihnen zurückkommen würden. Um Schockwirkungen für die Wirtschaft zu vermeiden, wollten wir auf Nummer sicher gehen. Außerdem sind wir immer wiedergewählt worden, obwohl die Zahlen nicht gesunken sind. Als dann deutlich mehr Menschen nach Großbritannien kamen als erwartet, haben wir nicht rechtzeitig gegengesteuert. Das war das Problem.

ZEIT: Die Torys gelten als die älteste und erfolgreichste Partei der Welt. Von den fast zweihundert Jahren ihres Bestehens haben sie ungefähr zwei Drittel an der Regierung verbracht. Ist jetzt das Ende dieser Partei gekommen?

Frost: Das könnte das Ende sein. Aber ich will es noch nicht glauben. Die Partei hat das Zeug, sich zu erneuern. Ihre Politiker sind zwar gerade ziemlich demoralisiert und deprimiert, aber sie hat immer noch eine starke Verankerung im Land. Natürlich, man muss in der Mitte kämpfen, aber man muss die Mitte auch zu sich hinziehen, indem man die Menschen davon überzeugt, dass die eigenen Ideen die richtigen sind. In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich die Mitte immer weiter nach links bewegt, und wir haben den Fehler begangen, uns diesem Trend anzupassen. Ein Ergebnis war, dass die Partei sich überdehnt hat und zerbrochen ist. Jetzt müssen wir sie wieder zusammenflicken.

ZEIT: Ist es dafür nicht zu spät? Sie haben die Reform-Partei angesprochen. Deren Anführer ist Nigel Farage, der einstige Chef der Brexit-Partei Ukip. Er hat schon den Anspruch angemeldet, eine neue konservative Bewegung zu gründen.

Frost: Deswegen hoffe ich, dass der nächste Chef der Konservativen niemand ist, der nach links neigt, sondern jemand, der für eine konservative Politik des Mainstreams steht. Ich muss zugeben, dass mir das Wahlprogramm der Reform-Partei in vielerlei Hinsicht besser gefallen hat als unser eigenes. Wir müssen die Heimat sein für all jene, die das ähnlich sehen. Falls uns das nicht gelingt, haben wir keine Existenzberechtigung mehr.

ZEIT: Das klingt, als müssten die Torys Nigel Farage kopieren.

Frost: Ich würde eher sagen, dass Farage das kopiert hat, was die Konservativen bis vor Kurzem waren.

ZEIT: Aber ist Farage Ihrer Ansicht nach noch ein Konservativer oder schon ein Rechtspopulist?

Frost: Seine Ideen scheinen mir absolut innerhalb des Thatcher-Konservatismus zu Hause zu sein. Ist er ein Populist? Mir ist ehrlich gesagt nicht klar, was das Wort eigentlich bedeuten soll.

ZEIT: Jemand, der Ängste schürt, um sie politisch auszubeuten.

Frost: Das Problem dürfte eher sein, dass wir nicht genug über die Dinge gesprochen haben, die den Leuten Angst machen. Sie sind zum Beispiel besorgt über die hohe Zuwanderung und den schwindenden sozialen Zusammenhalt. Wenn man das nicht anspricht, bewegen sich die Leute weiter nach rechts, das sehen wir doch überall in Europa.

ZEIT: Die Torys haben sich mit dem Brexit-Referendum allerdings selbst geschwächt. Es spaltete die Partei in Brexiteers und Remainer, also in zwei unversöhnliche politische Stämme.

Frost: Das mag stimmen. Aber was die Torys trotzdem immer zusammengehalten hat, war ein klares Bekenntnis zum Nationalstaat, zu Großbritanniens historischer Rolle in der Welt, zum sozialen Konservatismus. Diese Klammer ist uns in den vergangenen Jahren verloren gegangen. Wir können nicht gleichzeitig gesellschaftlich liberal und konservativ sein, oder wirtschaftspolitisch links und rechts. Wir müssen uns schon entscheiden. Diese Entscheidungen sind genau das, was jetzt vor uns liegt.