Mancher deutsche Fan wird vielleicht ewig über das verlorene Viertelfinale gegen Spanien trauern. Oder sich über den schlechten Schiedsrichter ärgern und die ungerechte Handspielregel. Sicher ist: Mit der Nationalelf wird, anders als in den Jahren zuvor, wieder gefiebert. Endlich trat sie wieder als Einheit auf, und gleich nach dem Aus hat Bundestrainer Julian Nagelsmann das Ziel ausgerufen, in zwei Jahren Weltmeister zu werden. Die Fußballnation Deutschland hat ihre Ambitionen wiederentdeckt – zu Recht.

Doch damit sie verwirklicht werden, müssen der DFB und seine Führungskräfte einiges ändern. Im Freudentaumel über die EM sollte man nicht vergessen, dass es sich um ein Improvisorium handelte: Für Toni Kroos war das Turnier nur ein Epilog seiner Ära bei Real Madrid. Ilkay Gündoğan, der mit Kroos die Mittelfeldachse des Teams bildete, ist auch schon 34 und kann höchstens noch ein Turnier spielen. Auch darf man sich von den Talenten Florian Wirtz und Jamal Musiala sowie Kai Havertz nicht täuschen lassen: Deutschland war eine der ältesten Mannschaften im Turnier. Manuel Neuer und Thomas Müller sind schon so lange dabei, dass junge Fans deren erste Länderspiele gar nicht erlebt haben. Antonio Rüdiger und Niclas Füllkrug sind 31. Robert Andrich mag ein neues Gesicht sein, wird aber auch in diesem Jahr schon 30.

Für die Kroos-Nachfolge hat Nagelsmann Aleksandar Pavlović vom FC Bayern, Angelo Stiller aus Stuttgart sowie den 33-jährigen Pascal Groß (demnächst wohl Dortmund) ins Spiel gebracht – der gewaltigen Aufgabe dürfte keiner der drei auf Anhieb gewachsen sein. Auch eine zukünftige Hierarchie ist nicht zu erkennen. Spieler, die jetzt im besten Alter wären, um die Mannschaft zu führen, sind Problemfälle. Leroy Sané hat erneut enttäuscht, Joshua Kimmich zwar gut gespielt, aber ob er weiter auf Außen verteidigen oder in die Mitte zurückkehren wird, zählt zu den schwierigsten Fragen. Und Leon Goretzka wurde vor der EM von Nagelsmann aussortiert – soll er nun wieder eine Führungsrolle übernehmen? Selbst Gündoğan, ein kluger Leader für eine Übergangszeit, wurde bei dieser EM vom Trainer in beiden K.-o.-Spielen früh ausgewechselt.

Was es für Nagelsmann nicht einfacher macht: Kontinuität fehlt beim DFB, mitunter auch Expertise. Sein Co-Trainer Sandro Wagner ist wohl auf dem Sprung zu einem Bundesligaverein. Andreas Rettig, als Geschäftsführer Sport seit einem Jahr im Amt, bezeichnet sich nicht einmal selbst als Fußballfachmann. Wenigstens bringt das Land in jeder Generation gute Fußballer hervor. Erst 2023 wurde die U17 Welt- und Europameister. Noah Darvich, Paris Brunner und Finn Jeltsch sind nur drei vielversprechende Namen aus dem Jahrgang 2006. Dem deutschen Fußball fehlen also nicht die Spieler, sondern ein eigener Stil. Der letzte Versuch, ihn zu prägen, war die DFB-Nachwuchsreform im Jahr 2000. Inzwischen hat der Verband zwar seine neue Zentrale in Frankfurt bezogen, den Campus. Doch was dort studiert und entwickelt wird, weiß keiner so recht.

Wen wird Nagelsmann also für die Länderspiele gegen die Niederlande und Ungarn im September aufbieten? Als Taktiknerd hatte er im Herbst begonnen, bis er, wohl auch unter dem Einfluss von Kroos, die Experimente beendete. Wie sehr wird ihm künftig das Korrektiv aus Madrid fehlen? Seine Kritiker behaupten ohnehin: Bei seinen Vereinsstationen in Leipzig und München hat er nicht viel vorangebracht, mit Deutschland ist er nun am ersten starken Gegner gescheitert. Talent und Charisma mögen vorhanden sein, und die EM-Elf hat er gut geführt. Aber bislang ist er nicht mehr als ein Versprechen.

Am Ende des Turniers fand er immerhin die richtigen Worte, er ist nun ein Trainer für sein Land. Doch auch das ist eine der Lehren dieser EM: Für den Erfolg einer Mannschaft wesentlich sind Führungspersonen, die über längere Zeit hinweg konzeptionell tätig sind. Wie etwa der Franzose Willy Sagnol, der mit dem Fußballzwerg Georgien ein tolles Turnier spielte. Gerade bei Nationalmannschaften geht es um viel mehr als Taktik. Ein Team zu formen, das wirklich um Titel mitspielen kann, dauert Jahre. Hoffentlich haben die Verantwortlichen und das Publikum dafür die nötige Geduld.