Das Letzte, was ich von meinem Therapeuten Wolfgang G. gesehen hatte, waren sein Hals und ein bisschen Mund gewesen, offenes Hemd, rötlich-gebräunte Haut, daneben ein Stück Himmel und eine dunkelgrüne Markise, die ich schon kannte. Er hatte beschlossen, noch ein bisschen länger in seinem Ferienhaus in der Toskana zu bleiben, und deswegen machten wir Online-Therapie. Ihm entging, dass ich nur einen Ausschnitt von ihm sah, doch ich konnte mich nicht dazu aufraffen, ihn darauf hinzuweisen. Er fuhr sich über die Bartstoppeln und sagte: "Es ist kein Wunder, dass Sie so lange alleinstehend sind. Sie sind angezogen von einem bestimmten Typ Mann, den man heute nolens volens toxisch nennen würde" – hier sah ich seine Hände Anführungszeichen in die Luft malen –, "und das Problem ist, Sie wollen eigentlich wie dieser Mann, dieser Cowboy sein, so lässig und so potent, Freud lässt grüßen." Er kicherte. "Andererseits wollen Sie von diesem Mann begehrt werden, und wieder andererseits wollen Sie genau das eben überhaupt nicht." Herr G. zog an seiner Pfeife, das tat er immer im Urlaub, ich begann mir die Nägel zu lackieren, wir schwiegen, ich seufzte. Eine kurze Beziehung mit Felix, meinem Zahnarzt, lag hinter mir. Felix sah aus wie der Zwillingsbruder von dem Staranwalt Christian Schertz und hatte auch dessen Selbstbewusstsein. Er war gegen das Tempolimit und liebte Sportwagen, wie ich erfuhr, als er mir einen zerbrochenen Zahn reparierte. Außerdem kommentierte er das politische Geschehen auf X, danach war er vielleicht sogar ein bisschen süchtig, "vor allem seit der Scheidung!", hatte er über das Geräusch des Bohrers hinweg gerufen, als ich unter ihm auf dem Behandlungsstuhl lag. Es war also eigentlich von Anfang an klar gewesen, wohin die Reise gehen würde, ich meine, ich wusste schon vorher, dass uns ein Gespräch über die Grünen, das Klima, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Problembezirke ins Haus stand. Aber als wir uns im goldenen Abendlicht in der Paris Bar gegenübersaßen und ich in seine Augen sah, die genauso verletzt waren wie die Seele der Franzosen, der Ostdeutschen, der Italiener und der Niederländer, da rückte plötzlich alles in den Hintergrund. Die Katastrophen in Israel und in Gaza, die AfD, die Messerattacken und insbesondere das Geschrei auf X darüber – all das war in diesem Moment nicht da, und ich beschloss kurzerhand, Felix zu retten und mich gleich mit. Denn auch meine Seele war verletzt (von Papa, meinem Konto & diesem vollkommen unzeitgemäßen Körper, von Instagram). Die Jahre als feministische Starautorin waren anstrengend gewesen, und ich sehnte mich danach, mal kurz einfach nur cute zu sein. Felix lächelte, er schenkte mir Wein nach und sagte zum Glück nichts. Wir würden uns gegenseitig die Wunden versorgen, die wir über die Jahre angesammelt hatten – unabhängig von Herkunft und Geschlecht. Wir würden ein Paar sein: eine feministische Starautorin und ein Starzahnarzt mit vielen Autos. Wir würden uns über alle Grenzen hinweg lieben und der Welt zeigen, dass das ging. Das Einzige, was Europa jetzt helfen konnte, war Liebe. Am Ende würde Felix dann auch endlich mit dem Twittern aufhören. Während ich nach der zweiten Flasche Wein völlig betrunken ein Selfie nach dem anderen machte, erklärte er mir, was Marx wirklich gewollt hatte. Leider checkten ihn "Linke" einfach nicht, insbesondere seine Kritik am "verlogenen Bürgertum", ging "spurlos" an ihnen vorbei, "tja", sagte Felix. Ich sagte nichts, aber das war kein Problem. Wir redeten über Autos und ob Gwyneth Paltrow Ähnlichkeit mit Simone de Beauvoir hatte (mit Stirnband: eindeutig!). Für Sex waren wir zu betrunken, wir schworen uns, niemals über Politik zu reden, und schliefen dann Hand in Hand ein, beide etwa in der Mitte unseres Lebens.