Nun sind die Rechtsextremen also auch in Frankreich, dem Mutterland der Aufklärung, angekommen. Und hierzulande? Wird immer noch so getan, als wäre das dunkelbraune Denken kein internationales Phänomen, sondern vor allem eine ostdeutsche Spezialität. Ja, wie ticken sie denn, die Ossis? Und was lässt sich gegen sie tun?

Jüngst hat Steffen Mau mit seinem Buch Ungleich vereint ein neues Mastererklärungsprogramm vorgelegt. Mau ist inzwischen so etwas wie der Cheferklärer des Ostens. Kaum jemand ist so gefragt wie der Soziologe von der Berliner Humboldt-Universität, wenn es um ostdeutsche Befindlichkeiten geht. Sogar der Kanzler soll auf ihn hören. Der gebürtige Rostocker gehört zu denen, von denen es ständig heißt, es gebe zu wenige von ihnen: eine ostdeutsche Deutungselite, die sich nicht von Westlern erklären lassen muss, was sie ohnehin besser weiß.

Doch auch Mau sucht vor allem im Osten nach Anomalien, nach Abweichungen von der Norm. Auch er beugt sich wie ein Arzt über seinen Patienten und hat gleich die passende Diagnose parat: Er nennt es "Ossifikation", eine Mischung aus ostdeutschem Eigensinn und einer pathologischen Verknöcherung, wie sie nach Frakturen auftritt, wenn sich Narbengewebe bildet. Autsch! Man muss sich die Ostdeutschen bei Mau als schwer gezeichnete Menschen vorstellen, bandagiert, mit Rippenbrüchen und fiesen Schrammen im Gesicht. So ist es eben nach fünfunddreißig Jahren auf dem Krankenlager. Der Osten tickt anders, und er wird anders bleiben, lautet Maus Befund.

Nun sind medizinische Metaphern selten glücklich, aber die Rede von der Ossifikation ist auch deshalb so irreführend, weil der Osten – bei aller zugestandenen kulturellen Eigenheit – einmal mehr als der Kranke und der Westen als der Gesunde gilt. Dabei kommen die positiven Nachrichten heute vor allem aus Ländern im Osten Europas: Man muss nur in die beitrittswillige Ukraine schauen, die sich noch immer im Kampf gegen einen nuklearen Aggressor befindet, nach Polen, das sich nach dem Ende der PiS-Herrschaft Demokratie und Rechtsstaat zurückholt, oder in die wehrhaften baltischen Staaten. Dass die estnische Premierministerin Kaja Kallas jüngst zur neuen EU-Außenbeauftragten ernannt worden ist, kann man als gutes Zeichen werten gegen die europäische Kleinmachpolitik, wie sie allenthalben von Ländern des alten Westens betrieben wird. Von Veränderungserschöpfung im Osten keine Spur.

Vor mehr als zwanzig Jahren schrieb der Soziologe Wolfgang Engler ein Buch über die Ostdeutschen als Avantgarde. Man sollte dieses Buch heute unbedingt wieder lesen: Nicht weil ihr Wahlverhalten so besonders nachahmenswert ist, sondern weil es zeigt, dass es in den vergangenen Jahren besser gewesen wäre, den Westen zum Arzt zu schicken, als sich immer wieder mit dem Stethoskop über den Osten zu beugen. Für eine rechtzeitige Genesung könnte es noch nicht zu spät sein.