Musik ist zum Hören da, und das kann, wenn alles gut läuft, ein wunderbares Erlebnis sein. Ist es dann überhaupt sonderlich sinnvoll, zusätzlich noch etwas über Musik zu lesen? Unbedingt, jedenfalls wenn man ein Buch wie Das Echo der Zeit in die Hände bekommt: Es ist nämlich ein musikalischer Thriller. Jeremy Eichler, Musikkritiker beim Boston Globe, zuvor bei der New York Times, ist durch Europa gereist, auf den Spuren vier bedeutender Komponisten des 20. Jahrhunderts, auf den Spuren einer ziemlich vertrackten Frage: Wie haben Richard Strauss, Arnold Schönberg, Dmitri Schostakowitsch und Benjamin Britten das Grauen ihrer Epoche vertont?

Das haben sie nämlich auf jeweils bewegende Weise getan: Strauss in seinen Metamorphosen, einer "reuevollen philosophischen Meditation" (Eichler), Schönberg in seinen sieben Minuten von Ein Überlebender aus Warschau, einer Klage über den niedergeschlagenenen Aufstand im Warschauer Ghetto, Schostakowitsch in seiner 13. Sinfonie, im Gedenken unter anderem an das Massaker von Babi Jar bei Kiew, und Britten in seinem War Requiem.

Uff, dunkler und schwerer geht’s ja wahrlich nicht. Aber keine Angst, liebe Musikfreunde, Kopfhörer auf und losgelesen: Denn Eichler macht aus dem Stoff einen packend geschriebenen Pageturner, über dem man leider nicht mehr an den drohenden Sonnenbrand denkt, so prall vor abenteuerlichen Geschichten und Anekdoten ist dieses kluge, temporeiche Buch. Er verbindet Musik und Historie und hat sich durch Archive und Literatur gewühlt, reist also auch in die Vergangenheit, quer durch die Epochen: Wir sind dabei, wenn 1948 ein Cowboy-Chor in Albuquerque, New Mexico, in einer Sporthalle Schönbergs Überlebenden uraufführt (ein überwältigender Erfolg übrigens), sind dabei, wenn Parteichef Chruschtschow 1962 am Vorabend der Uraufführung der Babi-Jar-Sinfonie die Künstler des Landes attackiert ("Ist das der richtige Zeitpunkt, um so ein Thema anzusprechen?"), sind dabei, wenn bei der Uraufführung des War Requiem der Solist und Ex-Wehrmachtssoldat Dietrich Fischer-Dieskau die Fassung verliert. Und wir spazieren mit dem Autor durch das heute scheinbar so idyllische Garmisch-Partenkirchen, wo Strauss komponierte. Wer aber genau hinschaut, erkennt, wie hier die NS-Vergangenheit immer noch ihren langen Schatten wirft.

Eichler forscht nach den Geschichten, Gefühlen und Gewissensqualen hinter der Musik, schildert die Kämpfe und das innere Ringen der vier Komponisten und wie ihnen dabei Meisterwerke gelingen – und versprochen: Nach der Lektüre klingt die Musik anders als zuvor. Ganz große Kunst also, anregend präsentiert: Damit übersteht man notfalls auch ein paar Regentage bestens.

Jeremy Eichler: Das Echo der Zeit. A. d. Engl. v. Dieter Fuchs; Klett-Cotta, Stuttgart 2024; 464 S., 32,– €, als E-Book 25,99 €