Auf dem Facebook-Profil der Sylter Bäckerei Raffelhüschen droht der Weltuntergang. "Wie furchtbar", schreibt ein Nutzer, "so erkaltet unsere Gesellschaft immer mehr. Ich würde es definitiv boykottieren!" Ein anderer findet: "Das Ende der Kultur ist eingeläutet." Und eine Nutzerin kommentiert: "Völlig unerotisch!"​

Was ist da passiert? Ende März hat mitten auf der Nordsee-Insel, keine 500 Meter vom Weststrand entfernt, in einem roten Backsteinhaus eine Art Weltneuheit eröffnet – das sagen jedenfalls der Bäcker Thomas Raffelhüschen und seine Mitstreiter. Die erste autonome Handwerksbäcker-Filiale der Welt, ohne menschliches Verkaufspersonal, gesteuert von künstlicher Intelligenz. Anders gehe es nicht mehr, sagt der Bäcker. Sonst hätte er eine seiner neun Insel-Filialen womöglich dauerhaft schließen müssen. Er fand einfach kein Personal. ​

Seit 2015 hat gut ein Viertel der Bäckereibetriebe dichtgemacht, zählt der Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks. Nicht nur, aber eben auch weil es an Personal fehlt. Die Bundesagentur für Arbeit listet die Bäcker selbst sowie die Fachverkäufer als sogenannte Engpassberufe – genauso wie jeden dritten Handwerksberuf insgesamt. Und auf Inseln wie Sylt, mit den hohen Mietpreisen und den beschwerlichen Anfahrtswegen, sind Angestellte ein noch knapperes Gut als auf dem Festland. ​

Nun soll künstliche Intelligenz also dabei helfen, das Personalproblem zu lösen. Dabei geht die Erzählung doch eigentlich so: Wurden zunächst Fabrikjobs durch Maschinen ersetzt, müssen nun die Mitarbeiter im Marketing, der Buchhaltung oder der Kundenkommunikation wegen der rasanten Entwicklung generativer KI um ihre Jobs fürchten. Und in großen Fabriken steuert die intelligente Software Maschinen, erkennt Fehler und optimiert Produktionsprozesse. Aber ans Handwerk denkt erst mal keiner. ​

Nun gut: fast keiner. Thomas Raffelhüschen, der mit 70 Mitarbeitern im Sommer zwischen 25.000 und 30.000 Brötchen pro Tag verkauft, sieht gerade im Handwerk Potenzial für künstliche Intelligenz. Denn auch der 40-Jährige spürt den Mangel an Personal: Einen Standort hat er schon schließen müssen und einen zweiten in einen Supermarkt verlegt.​

Die Kritik, seine Filiale sei nun unpersönlich und führe das traditionelle Bäckerhandwerk in den Untergang, lässt den Sylter Bäcker ziemlich kalt: "Trotz KI konzentrieren wir uns auf das Backen von Handwerksprodukten, und darum geht es doch letztendlich." Was bringe es den Kunden, wenn sie stattdessen auf industriell gefertigte Discounter-Brötchen ausweichen müssten, weil die Bäcker vor Ort verschwinden? "Das, was in die Tüte kommt, macht doch den Unterschied, das ist das Handwerksprodukt."​

Und so wachen seit diesem Frühjahr 25 intelligente Kamerasensoren über die autonome Filiale. Die Kunden betreten den 20 Quadratmeter großen Verkaufsraum und checken sich über die Raffelhüschen-App oder mit ihrer Kredit- oder EC-Karte am Terminal neben dem Eingang ein. Die Backtheke funktioniert per Selbstbedienung: Die Kunden füllen sich die Brötchen mit Greifzangen selbstständig in ihre Tüten ab und verlassen den Laden. Die Kameras erkennen, wer was gekauft hat. Die Rechnung erhalten die Kunden ein paar Minuten später via App oder können sie mit einem Code auf der Website abrufen, abgebucht wird automatisch.​