Georg Simmel hat in seiner 1908 erschienenen Soziologie den Zugewanderten als den Fremden, der bleibt, charakterisiert. Wer nicht von vornherein einer Gesellschaft angehört, sondern hinzukommt, vermag Qualitäten in sie hineinzubringen, die sie selbst nicht hervorbringen kann. Zu diesen Qualitäten zählt zweifellos ein besonders scharfer Blick auf die scheinbar selbstverständlichen Sitten, Marotten und Eigentümlichkeiten des neuen Landes, die einem Zugezogenen zwar bald vertraut, aber gleichzeitig fremd bleiben. Literatur von Migranten handelt jedenfalls häufig von der fremden Nähe und der nahen Ferne, sie lebt von der Spannung, dass jemand gekommen ist, um zu bleiben.

Der Schriftsteller Saša Stanišić, Sohn eines serbischen Vaters und einer bosnischen Mutter, ist 1992 mit 14 Jahren als Kriegsflüchtling nach Deutschland gekommen, nachdem serbische Truppen seine Heimatstadt Višegrad eingenommen hatten. In seinem ersten Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert (2006) erzählte er von dem Bürgerkrieg aus einer kindlichen Perspektive mit märchenhaften Motiven, was zu Recht gefeiert wurde. Sein Roman Herkunft (2019), ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis, lenkte den Blick auf die Migrationsgeschichte des Autors. Dass er seinem neuen Land mehr Geheimnisse entlocken kann als die Einheimischen selbst, hatte er da bereits mit seinem anrührenden Uckermark-Roman Vor dem Fest (2014) unter Beweis gestellt, in dem das regionalspezifische Personal aus Förster, Spitzel, Neonazi und Malerin sein Unwesen treibt.

Nun ist von Stanišić ein Erzählband mit einem ungewöhnlich langen Titel erschienen: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne. Dem Buch vorangestellt ist ein Lektürehinweis des Autors: "Bitte der Reihe nach lesen." Das ist kein Scherz, sondern ein sehr sinnvoller Rat, denn die Erzählungen sind subtil miteinander verwoben, sie bauen aufeinander auf. Man könnte das Buch, das keinen Gattungsnamen trägt, mit etwas gutem Willen durchaus als Roman bezeichnen. Das Strukturprinzip zeigt sich erst nach und nach und entfaltet einen erstaunlichen analytischen Sog.

Ein paar Jugendliche, allesamt Migranten, hängen in der ersten Erzählung namens Neue Heimat in den Neunzigerjahren in der Heidelberger Vorstadtsiedlung Emmertsgrund herum (dort hat Stanišić tatsächlich als Flüchtling gewohnt). Sozialer Wohnungsbau, wenig Bäume, aber viele Träume. Den anderen Jungs erzählt der Erzähler, er fahre in diesem Sommer nach Helgoland, an einen Ort, den seine Freunde nicht kennen, der aber sehr exotisch und ein wenig angeberisch klingt. Erst hundert Seiten später rückt Helgoland erneut ins Bild. Der Erzähler ist jetzt als Erwachsener dort, im Jahre 2023, und muss sich albtraumhafte Vorwürfe einer Wirtin einer Kneipe anhören, die ihn angeblich vor Jahrzehnten auf der Insel gesehen hat, auch eine Liebesgeschichte bahnt sich an, aber der Erzähler ist sich völlig bewusst, dass er nur eine fiktive Person ist, dass sein Autor ein Spiel mit ihm treibt und ihn nur durch die Geschichte schubst.

Nun können derartige metafiktionalen Spiele leicht nerven, nicht selten wirken sie überambitioniert. In der Prosa von Stanišić sind sie nicht nur leicht, elegant und amüsant, vor allem erfüllen sie eine Funktion. Sie zeigen, dass mit dem Eintritt in ein neues Land das Lesen und das Schreiben, die Fantasie und das Herumträumen für den Fremden, der bleibt, essenziell sind. Die Literatur ist das eigentliche Thema dieses Werks. Sie wurde zur wahren neuen Heimat des Geflohenen, und eben nicht die Sozialbausiedlung. Die Schutzlosigkeit konnte durch die Fabulierkunst besiegt werden, die karge Migrationsrealität wich dem Möglichkeitssinn. In seinem glühenden Kern handelt das Buch vom Rettungsanker des Erzählens – eines Erzählens, das über die Tristesse, ja sogar über den Bürgerkrieg triumphiert. Stanišić ist ein durch und durch menschenfreundlicher Romantiker.

"Ich war nicht auf Helgoland im Sommer 1994" heißt es nochmals hundert Seiten später. Der Erzähler von einst log, erklärt uns jetzt der Autor, weil er vor seinen Freunden mit einem ungewöhnlichen Reiseziel angeben wollte. Er lieh sich stattdessen Bücher über Helgoland aus der Stadtbücherei aus und las sie auf einem Hochsitz im Wald. Er las dort Heinrich Heine, er las Kafka, und er las Fallada. Saša Stanišić ist unendlich viel gereist – in den fantastischsten Welten, die nur die Literatur zu erschaffen vermag.

Es ist ein wirklich herrlicher Erzählband, mit auch sehr eigenständigen und in sich abgeschlossenen Geschichten wie der titelgebenden: Eine Witwe platziert die Gießkanne auf dem Grab ihres Mannes Hermann mit dem Ausguss nach vorne, um klarzumachen, dass sie bereit ist für eine neue Beziehung. Hier kreuzt Saša Stanišić das Schicksal einer alten deutschen Frau namens Gisela mit dem Schicksal eines jungen Geflüchteten. Den lernt sie zufällig kennen, und der ist über ihren Namen etwas amüsiert: "Ich dachte, euch gibt es nur in Büchern, die wir für Deutsch lesen. Die Giselas und die Heinrichs und die Friedrichs." Die Fiktion in diesem Buch ist definitiv stärker als jede Realität.

Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne. Luchterhand, München; 256 S., 24,– €, als E-Book 21,99 €