Wer soll die steigenden Kosten für das Gesundheitswesen tragen? Und wer sorgt dafür, dass sie nicht immer weiter zunehmen? Die Prämienentlastungs-Initiative der SP und die Kostenbremse-Initiative der Mitte wollen Antworten auf diese Fragen geben. Am 9. Juni stimmt das Schweizer Stimmvolk darüber ab. Die Debatte läuft entlang der bekannten ideologischen Linien. Doch in einem Punkt scheinen sich alle einig zu sein:

Die vielen Alten sind schuld.

Die Logik dahinter ist bestechend einfach. Die Bevölkerung wird älter, Alte haben mehr Krankheiten, und deshalb wird das Gesundheitssystem teurer. Im Abstimmungsbüchlein schreibt die Bundeskanzlei: "In einer Gesellschaft mit immer mehr älteren Menschen steigen darum die Gesundheitskosten." Die Erklärung ist so naheliegend, dass sie kaum hinterfragt wird. Doch bei genauer Betrachtung zeigt sich: Sie beruht auf einem Denkfehler, sie versperrt den Blick auf eine erfreuliche Entwicklung, und – noch schlimmer! – die vermeintliche Wahrheit schadet der Gesundheit.

Die Sache mit den Gesundheitskosten ist nämlich denkbar komplex (ZEIT Nr. 22/24). Das Gesundheitswesen ist kein freier Markt (Versicherungspflicht, gesetzlich festgelegte Tarife), wird aber auch nicht zentral geplant. Dafür gibt es umso mehr Stakeholder: Krankenkassen, Spitäler, Heime, Ärztinnen, Pfleger, Pharma-Unternehmen, Bund, Kantone, Patienten und Prämienzahlerinnen. Und es ist unklar, ob es jetzt ein gutes Zeichen ist, dass die Gesundheitskosten steigen (weniger Leid, mehr Lebensqualität) oder ein schlechtes (Ressourcenverschwendung). Bessere gesundheitliche Versorgung kann zu höheren Kosten (Mensch überlebt, braucht aber für Jahrzehnte teure Medikamente und Pflege) oder zu niedrigeren Kosten (Krankheit früh erkannt, schnell behandelt, Folgekosten gespart) führen. Und dann hält sich die Realität nicht mal ans Ökonomie-Lehrbuch. Zum Beispiel wenn es um technologische Innovationen geht, die haben bisher kaum zu Einsparungen geführt.

Da kann es schon mal passieren, dass aus einer Korrelation eine Kausalität wird: Die Menschen werden älter, die Gesundheitskosten steigen, ergo hat das eine mit dem anderen etwas zu tun. Ein rascher Blick auf die Altersverteilung der Gesundheitsausgaben scheint dies zu bestätigen. Mit steigendem Alter steigen die Kosten für Gesundheitsleistungen, die eine Person in Anspruch nimmt. Nur bedeutet das nicht, dass die alternde Bevölkerung der Grund für die steigenden Gesundheitskosten ist.

Für den Anstieg gibt es zahlreiche Ursachen: Einige Krankheiten treten häufiger auf, neue Behandlungsmethoden und Medikamente kommen auf den Markt, wir werden älter und reicher, es werden mehr Behandlungen durchgeführt, sinnvolle, fragwürdige und unnötige. Nur: Welcher Faktor trägt wie viel zum Kostenanstieg bei?

Diese Frage treibt Michael Stucki und seine Kollegen am Institut für Gesundheitsökonomie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Winterthur um. Zuletzt haben sie die Entwicklung zwischen 2012 und 2017 analysiert. In diesen fünf Jahren stiegen die Gesundheitskosten um 20 Prozent. Das ist viel, doch Stucki relativiert: "Ein Drittel des Anstiegs kommt vom Bevölkerungswachstum." Der größte Teil, fast die Hälfte, ist hingegen auf höhere Kosten pro Krankheitsfall zurückzuführen. Vielleicht wurden die Behandlungen besser, vielleicht auch einfach teurer, das ist aus den Daten nicht ersichtlich. Zudem traten einige Krankheiten häufiger auf – in denselben Altersgruppen. Nur magere 15 Prozent des Anstiegs insgesamt – oder rund 20 Prozent des Anstiegs der Ausgaben pro Kopf – können durch die veränderte Altersstruktur erklärt werden.

"Der demografische Wandel ist kein Haupttreiber der Kosten", sagt Stucki. Diese Aussage ist unter Fachkundigen kaum eine Überraschung und deckt sich mit einer Reihe ähnlicher Studien. In Deutschland beispielsweise betrug der Anteil der Demografie an den gestiegenen Gesundheitskosten zwischen 2004 und 2015 etwa 17 Prozent.

Am stärksten steigen die Gesundheitskosten für Kinder

Auch Jérôme Cosandey vom Thinktank Avenir Suisse hat die Kostendynamik im Gesundheitswesen analysiert. Er hat festgestellt, dass die Alten zwar absolut mehr kosten als die Jungen. Aber die Zunahme der Kosten bei den Jungen ist viel ausgeprägter. Die Ausgaben für ein Primarschulkind sind innerhalb der letzten zehn Jahre um 73 Prozent gestiegen, während es bei Personen zwischen 70 und 80 Jahren gerade mal 10 Prozent waren – im Durchschnitt über alle Altersgruppen waren es 23 Prozent. Und so kommt es, dass 2021 zwar wesentlich mehr alte Menschen in der Schweiz lebten als noch 2011, doch die Kosten für alle Personen über 65 konstant bei 44 Prozent der Gesamtausgaben lag.

Die Gründe für diese Dynamik kann Cosandey nicht aus den Daten lesen. Sie könnten positiv oder negativ sein: Haben Junge hypochondrische Tendenzen und gehen zu oft zum Arzt? Oder investieren Ärzte mehr in die Jugend, um langfristigen Gesundheitsfolgen vorzubeugen? Und die Frage, warum der Anstieg bei den Alten proportional so bescheiden ausfällt, haben sich Cosandey und sein Co-Autor nicht gestellt.

Wir leben heute 25 Jahre länger als noch vor 100 Jahren. Ob das ein Grund zum Feiern ist, hängt auch davon ab, bei welcher Gesundheit die zusätzlichen Jahre verbracht werden: dement und bettlägrig oder selbstständig und produktiv?

1980 hat der amerikanische Forscher James Fries die Hypothese aufgestellt, dass sich die Lebenszeit, in der wir chronisch krank und pflegebedürftig sind, auf eine immer kleinere Periode vor dem Tod konzentriert. Er nannte sie compression of morbidity, Komprimierung der Krankhaftigkeit. Die Hypothese war lange umstritten, hat sich aber mittlerweile im Grundsatz bestätigt. Auch in der Schweiz. Forscher der Universität Lausanne haben anhand von Befragungen untersucht, wie viele gesunde und wie viele kranke Jahre eine 65-jährige Person noch vor sich hat. Zwischen 2007 und 2017 stieg die Lebenserwartung in guter Gesundheit für 65-Jährige um rund 1,8 Jahre, während die zu erwartende Zeit der Krankheit um rund acht Monate abnahm. Eine eindeutige Komprimierung der Krankhaftigkeit – und damit eine sehr gute Nachricht.