Die Frühjahrssonne spiegelt sich in den Jalousien des Deutschen Instituts für Normung (DIN) in der Burggrafenstraße im uralten Westberlin – und sofort regt sich beim Betrachter die Lust, das in der Corona-Krise restaurierte Gebäude nicht mit den Assoziationen wahrzunehmen, die bei Besuchern und Mitarbeiterinnen ganz offenkundig ausgelöst werden sollen. Wir sollen sehen: ein zeitgemäßes Firmengebäude, transparent, licht, freundlich, am prallen Leben orientiert, nicht an trostlosen Zahlenreihen. Da steht also eventuell gar nicht das DIN, sondern ein cooler Ableger aus dem Silicon Valley, nicht die Behörde, die in Deutschland noch im Ruf steht, ein Symbol für Überregulierung und Bürokratie zu sein – das Deutscheste überhaupt neben dem TÜV.

Und wir gucken gleich noch mal zwei Minuten lang auf das wirklich gut aussehende, silbrigweiße Gebäude. Hier, am Zoo, ist Westberlin so wunderbar unrestaurierbar hässlich: das Belmont Pub, das Parkhaus eines Baumarkts, der ockergelbe Plattenbau vom Altersheim "Ruhesitz am Zoo". Und weiter viel Germany ums Eck: die Cafébar Coool, Mäc-Geiz, die Handy-Brüdaz.

Ein bronzener Wilhelm von Humboldt wacht vor dem Institutseingang, vor der Drehtür stehen die für jede Behörde obligatorischen drei grimmigen Raucher ("Mahlzeit"). Und mit der Außendarstellung, der smarten und ein wenig übergriffigen, geht es im Schaufenster gleich weiter: Eine Informationstafel listet die Verdienste des DIN und seine Unverzichtbarkeit für unser aller Zusammenleben auf: "Normung und Standardisierung seit 1917. 17 Milliarden Euro spart die deutsche Wirtschaft jährlich dank Normung. Ca. 35.000 Normen umfasst das deutsche Normenwerk. Mehr als 36.000 Expertinnen und Experten wirken am Normenstandard. Rund 1.400 Mitglieder fördern das deutsche Normensystem ideell."

Das sind ja doch wieder ziemlich viele Zahlen! Als guter deutscher Bürger merkt man sich da erst mal: Das Institut namens DIN kostet uns letztlich offenbar wenig Geld, im Gegenteil, wir sparen jährlich einen Haufen, es sind ganze 17 Milliarden. Und: Nicht das Institut selbst bestimmt, welcher Teil unserer Welt und unseres Alltags in einem Normungstext als Ideal festgehalten wird und so nicht eine Regulierung, sondern – aha – eine Empfehlung erhält, es sind viele Mitwirkende, die sogenannten interessierten Kreise, Vertreter von Wirtschaft, Wissenschaft, öffentlicher Hand, Umweltschutz, Gewerkschaften. Und: Beim Eintritt durch die Drehtür zeigt uns das DIN in der Berliner Burggrafenstraße gleich noch mal, was für großartig gute Laune es hat und dass absolut nichts Böses, Kaltes, Bürokratisches, Überregulierendes von ihm zu erwarten ist. Auf den Drehtüren stehen die Partysprüche "Wir drehen gleich durch vor Freude" und "Offen für Neues".

Wir begrüßen nun den natürlich astrein gebrieften Pressemann des DIN, Julian Pinnig. Er hat Sabrina Mann mitgebracht, Projektkoordinatorin, gelernte Bioingenieurin, seit 2009 beim Unternehmen. Themen, für die sie in den Gremien auf dem Weg zu einer Norm zuständig ist, lauten: Straßenrettung, Luftrettung, Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen, Rollstühle. Frau Mann erklärt, der Satz "Ich arbeite beim DIN" sei oft nicht das beste Partythema. Und fügt ironisch hinzu: "Ich messe den ganzen Tag Papier nach." Freude, Gelächter.

Hier unten im Erdgeschoss des Instituts besichtigen wir die Ausstellung Normen-Werk, konzipiert für Besuchergruppen oder für Passanten. Schau an, die alltägliche Präsenz von Normen lässt sich zum Beispiel an der Höhe von Treppenstufen verdeutlichen: Da ist eine genormte Treppe (DIN 18-065) neben einer Treppe mit nicht genormten Trittmaßen und unterschiedlich hohen Stufen aufgebaut ("Betreten auf eigene Gefahr"). Von den Treppenstufen geht es in der Ausstellung nun gleich nebenan zum Norm-Thema Smart Farming – ein Schaukasten mit Playmobil-Figuren zeigt die Digitalisierung der Landwirtschaft – und dann weiter zum Überthema der Gegenwart, zur künstlichen Intelligenz: Vielleicht lässt sich an keinem anderen Thema so gut veranschaulichen, dass Normen natürlich längst nicht mehr nur von Abmessungen von Papier oder Schrauben handeln, sondern von Software, von komplexen Systemen. Die Norm gestalte hier nicht weniger als die ethischen und wirtschaftlichen Anforderungen einer technischen Revolution mit, so Julian Pinnig. "Große Firmen wie IBM und Microsoft, aber auch jedes kleine Start-up setzen darauf, dass in der KI die einheitlichen Standards besser heute als morgen kommen."

Es ereignet sich nun der schöne Moment, dass Sabrina Mann dem Reporter das Du anbietet – von ihr aus sei das absolut okay, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beim DIN duzten sich, auch der Vorstandsvorsitzende, seit acht Jahren am Haus, gelernter Informatiker und ITler, lange Jahre Forschungschef beim Energiekonzern ABB, das sei nicht der Christoph Winterhalter, sondern für alle schlicht der Christoph. Wir stehen im Lichthof des Instituts: Sabrina, Julian, Moritz. Beim Durchstreifen der Gänge wird das immer wieder vorkommen, dass Sabrina und Julian auf Türen, Fensterbänke, Lichtschalter zeigen und dabei auf die Unverzichtbarkeit einer Normung hinweisen. Im Lichthof ist es der Iso-Container, bekannt als Stapelcontainer auf Frachtschiffen, hier umgebaut zur Raucherbox. In jedem Aufzug kommen etwa zehn DIN-Normen zum Einsatz, darunter sind die DIN für Stahlbauten (DIN 18800-7), die DIN für "Kaltgefertigte geschweißte Hohlprofile für den Stahlbau" (DIN EN 10219-1) und die für "Gefahrenmeldeanlage für Brand, Einbruch und Überfall" (DIN VDE 0833-1).

Noch einmal in aller Ruhe und halbwegs von vorn – ein wenig Basiswissen: Das Deutsche Normungsinstitut feierte im Dezember 2017 hundertsten Geburtstag. Die historische Notwendigkeit, mit einer Normung für Verbindlichkeit zu sorgen – zwischen Industrie, Wissenschaft, Staat, Verbrauchern –, stammt ursprünglich aus dem Maschinenbau und, natürlich, aus den Mutterländern der industriellen Revolution, aus England und aus Deutschland. Die erste Norm galt dem Kegelstift, als Verbindungselement im Maschinenbau verwendet, sie wurde 1918 als DIN 1 vergeben. Zeitsprung: Auch der Erfolg des Internets beruht selbstverständlich auf einer Norm, dem Internet Protocol (IT), einem Regelsatz zum Weiterleiten und Adressieren von Datensätzen.