Verbraucherpreise Die EZB, die Bauzinsen und die versteckte Inflation

Die Europäische Zentralbank soll die Inflation eindämmen - eigentlich. Quelle: imago images

Die Europäische Zentralbank soll die Inflation unter Kontrolle bringen. Ein Professor aus Münster argumentiert: In Wirklichkeit macht sie genau das Gegenteil, sie treibt die Inflation gleich doppelt an. Hat er Recht?

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Als ob die Inflation so nicht schon schlimm genug wäre. Das Monster, die Bestie, das Biest, wie Medien gerne schreiben, stets mit dem Hinweis: Obacht, es lauert immer noch auf euch. Die EZB kann es nicht einfangen. Da kann auch die vorläufige Inflationsschätzung des Statistischen Bundesamts für Mai kaum beruhigen, die einen Anstieg um 2,4 Prozent voraussagt.

Und jetzt das: Ein Professor aus Münster behauptet, dass die echte Inflationsrate noch höher ist als die offiziell ausgewiesene. Und dass ausgerechnet die Europäische Zentralbank mit ihren Leitzinsen dafür verantwortlich zeichnet.

Zur Erinnerung: Die EZB hat die Zinsen immer weiter angehoben mit dem Ziel, eben diese Inflation zu stoppen. Die Idee ist simpel und findet sich so in fast allen wirtschaftswissenschaftlichen Einsteigerwerken: Steigen die Zinsen, geben die Menschen weniger Geld aus, die Nachfrage sinkt, dadurch sinken dem magischen Kreuz aus Angebot und Nachfrage zufolge auch die Preise.

Die Inflation liegt nicht am Konsum

Schon länger monieren Kritiker, dass diese Argumentation derzeit ins Leere läuft. Schließlich ist die Inflation aktuell nicht darauf zurückzuführen, dass die Leute zu viel kaufen wollen – das wäre ein Nachfrageschock. Sondern sie liegt im Gegenteil an einem Angebotsschock, namentlich der extremen Preissteigerungen im Energiebereich als Folge der russischen Invasion in der Ukraine und ihrer Folgen. Auf diese Preise hat die Nachfrage deutscher Verbraucher eher weniger Einfluss.

Nun aber zum Professor aus Münster, genauer: Johannes Schwanitz von der Fachhochschule Münster. Schwanitz ist Experte für technische Betriebswirtschaft und hat sehr viel Zeit investiert, um große, durchklickbare Tableau-Dashboards über Verbraucherpreise und Zinsanpassungsreaktionen zu bauen. Schwanitz sagt, er komme aus dem Controlling, ihm gehe es um Transparenz.

Seine Kampfthese, mit der er versucht, die Wissenschaftswelt aufzurütteln: Die EZB bekämpft die Inflation nicht, sondern schürt sie selber an, sagt Schwanitz: „Die Zentralbank treibt die Preise.“ Und das gleich doppelt: direkt und indirekt.

Indirekt, weil die Unternehmen wegen der gestiegenen Leitzinsen deutlich höhere Kosten tragen müssen. Schwanitz bezieht sich auf Daten der Bundesbank, denen zufolge Zinsaufwendungen voriges Jahr der am drittmeisten gestiegene Kostenfaktor waren, nämlich um satte 21 Prozent im Vorjahresvergleich. Diese Kosten müssten die Unternehmen kompensieren – und legten sie auf die Preise um. Zack, da ist sie, die Inflation.

Und direkt deshalb, weil der höhere Leitzins ziemlich direkt (manchmal gar schon in Antizipation im Voraus) höhere Bauzinsen mit sich bringt. Und diese Bauzinsen belasten den Geldbeutel der Verbraucher.

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Nun muss man wissen, dass Bauzinsen nicht Teil der offiziellen Inflationsberechnung sind. Der Verbraucherpreisindex, wie ihn das Statistische Bundesamt (Destatis) Monat für Monat veröffentlicht, bezieht sich auf einen sogenannten Warenkorb aus rund 700 Gütern. Die werden wiederum mithilfe eines Wägungsschemas gewichtet, das im Jahr 2020 neu festgelegt wurde.

Demnach schlagen Preissteigerungen bei Lebensmitteln und nicht-alkoholischen Getränken etwa mit 119 Tausendsteln zu Buche. Das Bildungswesen wiegt hingegen nur 9,06 Tausendstel.

Mieten sind ein wichtiger Teil der Inflation

Wichtigster Bestandteil des Wägungsschemas ist alles, was mit dem Bereich Wohnen zu tun hat. So kommen Mieten etwa auf 180 Tausendstel, also 18 Prozent. Mieten sind damit ein bedeutender Teil der offiziellen Inflationsberechnung. Müssen Mieter in Deutschland wie zuletzt Jahr für Jahr deutlich mehr Geld für ihre Wohnung ausgeben, so schlägt sich das direkt in der Inflationsrate nieder.

Die gestiegenen Bauzinsen jedoch, die Hauskäufer und -bauer sogar noch stärker im sprichwörtlichen Portemonnaie spüren, kommen in der Inflationsberechnung schlicht nicht vor. Dabei haben Schätzungen zufolge etwa 7,3 Millionen Haushalte einen Baukredit, den sie abstottern müssen.

Und die Bauzinsen haben sich binnen nur eines Jahres vervierfacht. Damit „müsste die individuelle Inflationsrate eines typischen (Neu-)Immobilienbesitzers weit über der jetzigen Statistik liegen“, argumentiert Schwanitz in einem Paper, in dem er seine Argumentation vorträgt.

„Mieten und Zinsen für Kredite können durchaus äquivalent betrachtet werden“, schreibt er weiter und fordert, nicht nur Bauzinsen, sondern auch sonstige Kredite in die offizielle Inflationsberechnung mit aufzunehmen. Das würde die Inflationsrate Schwanitz‘ Berechnungen zufolge steigern.

Es geht nicht um eine komplette Verschiebung, nur um eine kleine Erhöhung hinter dem Komma. Und derzeit dürfte selbst das nicht stimmen. So argumentiert zumindest Stefan Kooths, Direktor des Forschungszentrums Konjunktur und Weltwirtschaft am IfW Kiel. Ganz im Gegenteil, sagt Kooths: Wären die Bauzinsen Teil der Berechnung, fiele die Inflationsrate sogar geringer aus.



Kooths Kalkül ist einfach: Der große Preissprung bei den Bauzinsen vollzog sich Mitte 2022, ihren zuletzt höchsten Stand erreichten sie Ende 2023. Der Verbraucherpreisindex lebt indes immer von Vorjahresvergleichen. Und da die Zinsen heute niedriger sind als vor einem Jahr, wäre die fiktive Inflationsrate gesunken.

Ohnehin hält Kooths nicht allzu viel von Schwanitz‘ Überlegungen. Sollten wirklich die Wohnkosten abgebildet werden, wäre das aktuelle (Bau-)Zinsniveau die falsche Messgröße, argumentiert Kooths. Zum einen, weil ein Großteil der Kredite schon läuft und nicht von kurzfristigen Zinssprüngen abhängt. Zum anderen, weil die tatsächliche Belastung der Haushalte stärker von den Immobilienpreisen und der Kreditsumme abhängt.

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Kooths‘ lakonische Bewertung: „Der Vorschlag, die Lebenshaltungskosten für selbstgenutzten Wohnraum an Zinskosten festzumachen, kann ökonomisch nicht überzeugen.“

Die Inflation soll nicht zeigen, wie viel Geld die Leute haben

Und selbst wenn er überzeugen könnte, umsetzbar wäre er trotzdem nicht. Anruf beim Statistischen Bundesamt, genauer: bei Christoph-Martin Mai, der als Leiter des Referats Verbraucherpreise gewissermaßen Chef der deutschen Inflationsberechnung ist.

Mai dekliniert, dass der Verbraucherpreisindex nur Waren und Dienstleistungen abbilden soll, keine Finanzierungskosten. Er soll also gar nicht zeigen, wie viel Geld Menschen im sprichwörtlichen Portemonnaie haben, auch wenn die Formulierung so gerne gebraucht wird. „Der Index soll zeigen, was den Konsum beeinflusst“, sagt Mai. Und Baukredite gelten nicht als Konsum.

Es gibt andere Indizes, die Immobilienkosten mit einbeziehen, den sogenannten „Cost of Living“-Index etwa, in dem eben die Lebenshaltungskosten verglichen werden. Schwanitz hat also Recht, wenn er sagt, dass die Inflationsrate einen wichtigen Ausgabenfaktor vieler Haushalte ausklammert. Dieser kann jedoch ohnehin nicht am aktuellen Zinsniveau festgemacht werden. Und er ist in anderen Indizes besser aufgehoben als in der Inflationsrate.

Destatis darf Bauzinsen gar nicht in die Inflation einrechnen

Ohnehin ist nicht nur fragwürdig, ob die Verbraucherpreise um die Bauzinsen erweitert werden sollten, es ist auch de facto gar nicht möglich. Was zur Inflation zählt und was nicht, wurde bereits in den Nachwehen des Zweiten Weltkriegs von den Vereinten Nationen grob festgelegt. Bei den heutigen Vergleichswerten folgt das Statistische Bundesamt den Vorgaben seines europäischen großen Bruders Eurostat. Ausscheren ist nicht möglich.

Schwanitz sieht das naturgemäß anders. Geht es um Destatis und die EZB wird er hitzig, methodische Herausforderungen kontert er mit: „Das ist ja deren Problem.“ Ein Problem, dass Destatis selbst auflösen müsse, im Notfall, indem es einfach vorprescht.

Das Statistische Bundesamt hingegen begreift sich als Dienstleister der Öffentlichkeit, nicht als eigenständig handelnder Akteur. Der darf es laut Aufgabenzuschreibung auch gar nicht sein.

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„Wir können die Inflationsrate nur neu berechnen, wenn wir einen neuen Auftrag dafür haben“, sagt Verbraucherpreis-Chef Mai. Spätestens im Jahr 2028 soll wieder auf den Prüfstand gestellt werden, welche Güter und Dienstleistungen wie in den Index einfließen. Klar ist schon jetzt: Cannabis dürfte erstmals dabei sein. Bauzinsen hingegen ziemlich sicher nicht.

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