Vom früheren französischen Finanzminister und späteren Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing ist der Satz überliefert, die USA hätten als Emittent der Weltreservewährung Dollar ein „exorbitantes Privileg“. Diese Kennzeichnung trifft heute im übertragenden Sinne auch auf die Position Frankreichs innerhalb der Europäischen Währungsunion zu. Trotz stetig steigender Haushaltsdefizite konnte sich Frankreich lange Zeit fast so günstig verschulden wie das fiskalisch vernünftige Deutschland. Selbst die Herabstufung der französischen Bonität durch S&P Ende vergangenen Monats hat der Anleihemarkt gelassen hingenommen. Es entstand der Eindruck, Frankreich sei in gewisser Weise immun gegen die übliche Kreditdisziplin. Doch dann mischte sich die Politik ein.
Nachdem die französische extreme Rechte bei den Wahlen zum Europäischen Parlament einen starken Zulauf erhalten hatte, reagierten die Märkte ausgesprochen negativ auf die abrupte Entscheidung von Präsident Emmanuel Macron, die Nationalversammlung aufzulösen und eine vorgezogene Neuwahl auszurufen. Möglicherweise unterschätzen die Anleger jetzt aber die Widerstandsfähigkeit des exorbitanten französischen Privilegs.
Der Grundstein dafür wurde 1992 mit dem Vertrag von Maastricht gelegt, der eine Währungsunion ohne Fiskalunion schuf. Dieses System erforderte eine „No-Bailout“-Regel, um zu verhindern, dass verschwenderische Länder die fiskalisch verantwortungsvolleren Mitglieder ausnutzen. Doch die Eurokrise von 2010 bis 2012 offenbarte den fatalen Fehler dieses Konzepts: Wenn das Verbot von Rettungsaktionen bedeutete, dass die Europäische Zentralbank (EZB) nicht als Kreditgeber der letzten Instanz fungieren konnte, würde dies die Währungsunion und damit das gesamte europäische Projekt gefährden.
Zur Person
Brigitte Granville ist Professorin für internationale Wirtschaft und Wirtschaftspolitik an der Queen Mary University of London.
Der Kompromiss basierte auf einer Fiskalregel. Die EZB war bereit, in unbegrenztem Umfang Anleihen der Mitgliedstaaten der Eurozone aufzukaufen, sofern deren Haushaltspläne den von der Europäischen Kommission festgelegten und durchgesetzten Haushaltsregeln entsprachen. Unterdessen blieben die Brüsseler Fiskalhüter gegenüber den französischen Regierungen sehr nachsichtig. Die Krisen in den kleineren Peripherieländern und dann in Italien waren alarmierend genug. Das Letzte, was sie wollten, war ein ähnlicher Konflikt mit Frankreich, dem Eckpfeiler des gesamten europäischen Gefüges.
Die Haushaltsregeln der Eurozone wurden zwar als Reaktion auf die Coronapandemie ausgesetzt. Doch nun sind die Regeln (mit einigen Änderungen) wieder in Kraft - und das französische Haushaltsdefizit ist mit 5,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts weiter denn je von der Dreiprozent-Schwelle entfernt. Schon vor dem jüngsten politischen Schock hatten Beobachter befürchtet, dass der Tanz zwischen Paris und Brüssel heikler denn je sein würde. Nun könnten die vorgezogenen Neuwahlen zu einer Regierung von Parteien führen, die in ihren Wahlkampagnen jeden Anschein von Haushaltsdisziplin aufgegeben haben. Sowohl die Europawahlen als auch jüngste Umfragen deuten darauf hin, dass die größte Herausforderung von Marine Le Pens Rassemblement National und den mit ihr verbündeten rechten Parteien ausgeht. Die Finanzmärkte reagieren bereits so wie 2017, als Le Pen 2017 zum ersten Mal einen ernsthaften Versuch unternahm, an die Macht zu kommen.
Damals sprach sich Le Pen dafür aus, den Euro aufzugeben und den französischen Franc wieder einzuführen - was einen systemischen Finanzschock ausgelöst hätte. Obwohl sie die Idee eines Austritts aus der Eurozone später fallen ließ, verunsicherte sie die Märkte, als sie 2022 erneut für das Präsidentenamt kandidierte. Es ist also keine Überraschung, dass die Märkte nun erneut alarmiert sind.
Sollten der Rassemblement National und seine Verbündeten die Wahl gewinnen, wird Le Pen jedoch kein Interesse daran haben, die „exorbitanten Privilegien“ des Landes in der Eurozone zu zerstören. Im Gegenteil, sie dürfte alles daran setzen, dieses Privileg sogar auszunutzen, um sich den Weg zur Präsidentschaft 2027 zu ebnen. Aus diesem Grund hat ihr designierter Premierminister, der charismatische Jordan Bardella, 28, bereits einen Rückzieher beim fiskalisch kostspieligsten Wahlversprechen der Partei gemacht: der Rücknahme der Erhöhung des Renteneintrittsalters (von 62 auf 64 Jahre), die Macron im vergangenen Jahr gegen öffentliche Proteste durchgesetzt hatte.
Von einer rechten Regierung, die in „Kohabitation“ mit Macron regieren würde, erwarte ich daher, dass sich die alten finanzpolitischen Spielchen mit Brüssel wiederholen, wenn auch mit einer aggressiveren und die Märkte verunsichernden Rhetorik. Das Gleiche gilt freilich für eine mögliche linke Regierung mit ihrer aggressiven Steuer- und Ausgabenpolitik.
Und was passiert bei einem Patt? Wenn die rechten und linken Bündnisse jeweils rund 200 Sitze gewinnen, während Macrons zentristischer Block von 250 auf höchstens 150 Sitze schrumpft, wäre es äußerst schwierig, eine Regierung zu bilden - ganz zu schweigen von einer stabilen. Ein anhaltender politischer Stillstand in Paris würde bedeuten, dass Brüssel keine Regierung mehr vorfindet, mit der es in Haushaltsfragen ernsthaft verhandeln könnte. Je länger eine solche politische Hängepartie andauern würde, desto größer wären die finanzielle Instabilität und der Schaden für die gesamte europäische Wirtschaft.
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