In den Gängen des Europäischen Parlaments hat das Zählen begonnen. Wer von den Abgeordneten ist „auf Kurs“, wer muss noch überzeugt werden? Wenn am 18. Juli in Straßburg über die Nominierung von Ursula von der Leyen für eine zweite Amtszeit an der Spitze der EU-Kommission abgestimmt wird, gibt es nur einen Wahlgang. Fällt von der Leyen durch, wäre ihre Karriere in diesem Moment zu Ende. Es geht also um alles oder nichts.
Eigentlich müsste es locker für Bestätigung reichen. Von den insgesamt 720 Sitzen verfügt das Mitte-Bündnis aus Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen inzwischen über 401 Mandate – mithin 40 mehr als die erforderliche Mehrheit von 361 Stimmen. Dennoch hat eine erste Umfrage unter den Abgeordneten einen beunruhigenden Zwischenstand ergeben: Gerade einmal 350 Parlamentarier haben sich bislang verpflichtet, für die frühere CDU-Politikerin und Spitzenkandidatin der Europäischen Volkspartei zu votieren.
Demnach gäbe es 51 „Abweichler“ – mehr als gedacht. Nicht nur EVP-Fraktionschef Manfred Weber ist beunruhigt und mahnt bei seinen Gesprächen mit Sozialdemokraten und Liberalen, doch bitte das Wahlergebnis anzuerkennen – und die Spitzenkandidatin der klaren Wahlsiegerin EVP zu unterstützen. Von der Leyen selbst verzichtet angesichts der prekären Lage auf ihre Teilnahme am Nato-Gipfel kommende Woche in Washington – sie will stattdessen bei den Abgeordneten für sich werben.
Bei der EVP gibt es in den Reihen der slowenischen und französischen Konservativen mit elf Abweichlern besonders viele Kritiker der Deutschen. Die größte Zahl findet sich jedoch in der Fraktion der Sozialdemokraten. Dort ist man nachhaltig darüber verstimmt, dass es für das Amt der Parlamentspräsidentin keine Absprache gegeben hat. Die bisherige EP-Präsidentin Roberta Metsola, eine Konservative aus Malta, wird wieder von der EVP als stärkste Fraktion nominiert. Der Forderung der Sozialdemokraten, nach der Hälfte der fünfjährigen Legislaturperiode einen Wechsel zu ihren Gunsten herbeizuführen, hat die EVP nicht entsprochen.
Poker um Parlamentspräsidentin
An sich sind solche Wechsel nicht ungewöhnlich. Angeblich macht sich Katarina Barley, die Spitzenkandidatin der SPD in der Europawahl, Hoffnungen. Da die SPD aber mit 13,9 Prozent ganz weit hinten lag und der Abstand zwischen EVP und Sozialdemokraten diesmal besonders groß ausfiel, sieht die EVP keinen Anlass, das Amt nach zweieinhalb Jahren an die deutlich kleinere sozialdemokratische Fraktion zu übergeben. Dem Vernehmen nach sind aber Gespräche im Gange. Auch einige Grüne haben zu erkennen gegeben, dass sie zu einem Votum für von der Leyen bereit wären. Bedingung sei aber ein Festhalten am Green Deal und die ausdrückliche Zusicherung, sich nicht den Rechtspopulisten der EKR anzudienen, zu denen unter anderem die Fratelli d´ Italia von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni zählen.
Meloni selbst hatte sich im EU-Rat bei der Nominierung von der Leyens enthalten, was zu Spekulationen führte, sie wolle einen Preis für die Zustimmung ihrer Abgeordneten aushandeln, etwa einen besonders herausgehobenen Kommissarsposten im Rang eines Vizepräsidenten.
Trotz der hohen Zahl der Abweichler herrscht bei der EVP demonstrative Zuversicht. Angesichts von Krieg und Krisen und mit Blick auf die politischen Erschütterungen in Frankreich könne es sich Europa nicht leisten, eine Amtsinhaberin und siegreiche Spitzenkandidatin durchfallen zu lassen. In diesem Fall müsste es einen Sondergipfel des EU-Rats geben, bei dem die 27 Staats- und Regierungschefs der EU dann einen neuen Kandidaten oder eine neue Kandidatin für die Spitze der Kommission vorschlagen müssten. Mit Blick darauf hatte Bundeskanzler Olaf Scholz bei seiner letzten Regierungserklärung im Bundestag die Abgeordneten der Ampelkoalition gemahnt, Europa könne sich in der jetzigen Lage „keine Hängepartie leisten.
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