Es gab in dieser Saison nichts, das Bayer Leverkusen aus der Ruhe gebracht hätte. Diese Mannschaft, die erste, die eine gesamte Bundesliga-Saison ohne Niederlage spielte, schien alles zu können: Spiele in letzter Minute zu drehen, den FC Bayern nach Strich und Faden zu dominieren, im letzten Spiel der Saison in Unterzahl zu bestehen – und allen voran, Titel zu gewinnen. Trainer Xabi Alonso machte aus dem ewigen Vize-Meister eine unbesiegbare Mannschaft.
Als Alonso in Leverkusen übernahm, im Oktober 2022 war das, stand die Werkself auf einem direkten Abstiegsplatz. 20 Monate später feiert die gleiche Mannschaft das erste Double aus deutscher Meisterschaft und DFB-Pokal der Vereinsgeschichte. Schon am Sonntag trafen Bayers Double-Helden wieder in Leverkusen ein. Dort trugen sich Spieler und Trainer ins Goldene Buch der Stadt ein, ehe die Stars im Cabrio-Corso ins Stadion fuhren – und von mehr als 40.000 Fans begleitet und empfangen wurden.
Fernando Carro, Leverkusens Geschäftsführer, blickte schon voraus: „Das Ziel für die nächste Saison ist, bis zum Ende um den Titel mitzuspielen. Bayern ist von ihrer Geschichte das stärkste Team in Deutschland. Wir wollen zumindest Paroli bieten können“, sagte er. Verhaltene Worte für einen Titeltag, der womöglich den Beginn einer neuen Ära markiert.
„Was wir gemacht haben, ist unglaublich“
Mit Abpfiff des DFB-Pokalfinals gegen den 1. FC Kaiserslautern (1:0) am Samstag hüpfte Alonso aufgeregt auf den Rasen. Beide Arme zum Jubel nach oben gestreckt, fiel er erst seinem Trainerteam um den Hals, sprintete dann direkt in die Jubeltraube seiner Spieler. Es war ein ungewöhnlich emotionaler Ausbruch des sonst so bodenständig zurückhaltenden Trainers. Es zeigte, wie besonders dieser Tag, dieses Spiel, dieser Titel für Alonso und Bayer war. „Die ganze Reise, die ganze Saison war wunderbar. Was wir diese Saison gemacht haben, ist unglaublich“, erklärte der Coach.
Rückblick: Leverkusen war 2022 historisch schlecht in die Saison gestartet, hatte aus den ersten acht Spielen nur einen Sieg geholt und war in der ersten DFB-Pokalrunde krachend ausgeschieden. Dann kam Alonso. Und führte Leverkusen noch in die Europa League.
Mitentscheidend für die dann folgende historische Saison des Vereins, der sich wegen seines steten Scheiterns einst den Namen „Vizekusen“ patentieren ließ, war die Transferpolitik. Alonso und Sport-Geschäftsführer Simon Rolfes verstärkten die Mannschaft auf einigen Positionen überraschend wie überragend. Granit Xhaka kam als Kapitän von Englands Meisterschaftszweitem Arsenal für 15 Millionen Euro, Jonas Hofmann von Liga-Konkurrent Gladbach für zehn Millionen Euro, Linksverteidiger Álex Grimaldo sogar ablösefrei von Portugals Meister Benfica. Und alle drei Spieler nannten Trainer Alonso jeweils als ausschlaggebenden Grund für ihre Wechsel.
„Das Gespräch hat mir imponiert“
Xhaka sagte: „Mir gefällt, wie er spielen lassen möchte, seine Ideen, seine Philosophie – daher war es für mich eine schnelle Entscheidung.“ Hofmann erklärte: „Das Gespräch mit Xabi Alonso hat mir schon imponiert. Er ist eine extreme Autoritätsperson und Persönlichkeit.“ Und Grimaldo sagte: „Ich wollte von ihm trainiert werden, ein wichtiger Bestandteil dieses Vereins werden.“ In Zeiten, in denen Fußballern nachgesagt wird, häufig wegen lukrativer Verträge und des Geldes zu wechseln, ist die Entscheidung für einen Trainer bemerkenswert.
Ebenso wie Grimaldos sportliche Entwicklung. Der Linksverteidiger, in der legendären Fußballschule La Masia beim FC Barcelona ausgebildet, war schon bei Benfica für seine Offensivstärke bekannt – das blieb den europäischen Top-Klubs aber offenbar verborgen. Nicht so Rolfes und Alonso, die Grimaldo als einen der ersten Sommer-Transfers unter Vertrag nahmen.
Mit Xhaka folgte ein Routinier, der die Bundesliga aus 108 Spielen für Gladbach bestens kannte. Der Schweizer wurde auf Anhieb Wortführer und Taktgeber auf dem Feld. „Er macht mir das Leben einfacher“, lobte Alonso nach dem Pokalfinale – in dem Xhaka das Tor zum Titel schoss. Alonso sagte: „Er hat einen großen Einfluss auf die Spieler und geht immer als gutes Beispiel voran. Ohne ihn wäre das alles nicht möglich gewesen.“
Bayer schlägt Bayern – und Alonso denkt an sein Team
Außerdem verpflichteten Alonso und Rolfes den Stürmer Victor Boniface (20,5 Millionen Euro von Saint-Gilloise), Flügelflitzer Nathan Tella (23,3 Millionen Euro von Southampton) und Leih-Spieler Josip Stanisic vom FC Bayern. Alles Profis, die während der Saison ihren Teil dazu beitrugen, dass Leverkusen alles konnte. Alles Profis, die unter Alonso ein neues Level erreichten.
Das wurde besonders beim 3:0-Heimsieg gegen die Bayern Anfang Februar deutlich. Eine echte Machtdemonstration. Nicht nur, dass ausgerechnet Stanisic den Führungstreffer erzielte, Alonso bewies einmal mehr seinen feinen Charakter. Nach Abpfiff wurde der Trainer zum Feiern vor die Leverkusener Nordkurve gebeten – und nahm kurzerhand seinen gesamten Trainer- und Betreuerstab mit. Die Symbolik des Teamgedanken kam in wenig anderen Momenten der Saison so deutlich zum Vorschein.
Applaus gibt es auch für Fehlpässe
Zwei andere Szenen des Pokalfinals zeigten Alonsos positiven Einfluss auf die Leverkusener Mannschaft. Mitte der zweiten Halbzeit: Leverkusens Stürmer Amine Adli war in die Tiefe gestartet, als die FCK-Defensive gerade einen Moment unaufmerksam war. Doch Innenverteidiger Edmond Tapsoba schlug seinen Pass über 50 Meter ins Seitenaus, ins Nichts. Trotzdem klatschte Alonso Beifall, ermunterte Tapsoba, solche Pässe wieder zu versuchen – auch wenn diese Art von Spiel gegen den normalen Alonso-Stil spricht. Nach dem Europa-League-Finale gegen Atalanta Bergamo (0:3) wünschte sich Alonso mehr lange Bälle, um der gegnerischen Manndeckung besser entgegenzuwirken. Vier Tage später hatte Leverkusen diese neue Option noch nicht perfekt verinnerlicht, aber gelernt, es zu versuchen.
Fünf Minuten später: Florian Wirtz wollte einen Einwurf schnell ausführen, schnappte sich den Ball an der Seitenlinie – und rannte in die ausgestreckten Arme von Alonso, der sich in den Weg stellte und seinen Spielmacher kurzerhand umarmte. Ein kurioses Bild. Alonso erklärte nach dem Finale: „Flo will immer spielen. Ich musste ihn ein bisschen bremsen.“ Zur rechten Zeit schritt der Trainer ein – allzu oft musste er das freilich nicht, bei einer Mannschaft, die wie im Autopilot von Sieg zu Sieg eilte. Weil Alonso sie in akribischer Arbeit darauf programmiert hatte.
Leverkusen spielte im DFB-Pokalfinale eine Halbzeit in Unterzahl, nachdem Abwehrmann Kossounou kurz vor der Pause die Gelb-Rote Karte gesehen hatte. Bayers erster Platzverweis in dieser Rekord-Saison, im letzten Spiel zeigte die Werkself, dass sie auch mit einem Spieler weniger bestehen kann. „Die Unterzahl war eine Herausforderung für uns. Die Zusammenarbeit der Spieler war der Schlüssel zu diesem Erfolg. Ich bin sehr dankbar!“
Alonso erklärte außerdem, dass nicht nur er in der Kabine zur Mannschaft gesprochen habe. Auch Vize-Kapitän Jonathan Tah und die beiden Anführer Xhaka und Robert Andrich ergriffen das Wort. Es spricht für so viel: die Kaderzusammenstellung, die Teamchemie – und dass Alonso in den richtigen Momenten weiß, wie er Aufgaben delegiert. Der herausragende Trainer reißt nicht alles an sich, sondern formt Problemlöser um sich herum.
Und Alonso hängt das stete Wachstum über den schnellen Erfolg – und entschied sich deshalb gegen einen Wechsel zum FC Bayern, zu Real Madrid oder nach Liverpool. Drei Vereine, mit denen er als Spieler große Erfolge gefeiert hatte. Zumindest zwei Vereine, die in diesem Sommer neue Trainer such(t)en. Doch Alonso bleibt in Leverkusen. Es könnte der Beginn einer neuen Ära sein.