Die kindliche und ohne Scheu vorgetragene Freude musste immer wieder heraus: Mit einigen Jubelsprüngen vor den mit Bayer-Leverkusen-Fans besetzten Rängen des Olympiastadions in Berlin feierte Xabi Alonso völlig ausgelassen – es war letzter Kraftakt einer unfassbaren Saison: Nach der bereits vor fünf Wochen errungenen deutschen Meisterschaft durfte er gemeinsam mit seiner Entourage nun mit dem DFB-Pokalsieg in die rheinische Industriestadt zurückkehren.
Ein 1:0 (1:0) gegen den 1. FC Kaiserslautern reichte zum Triumph, der noch lange nachhallen wird. „Ich bin stolz und ich bin glücklich für die Spieler“, sagte der Trainer. „Es ist total verdient“, betonte er – und kündigte an: „Heute Abend trinke ich deutsches Bier.“
Wie eng Sieg und Niederlage im Sport manchmal beieinanderliegen können, hatte er am Mittwoch erfahren müssen. Im Europa-League-Finale gegen Atalanta Bergamo unterlag sein Bayer Leverkusen erstmals seit 52 Spielen. „Das passiert, so ist Fußball“, sagte er, „normalerweise verliert man viel früher.“ In der Tat: Selbst wenn er nie wieder ein Match gewinnen sollte, wird das Erreichte historisch bleiben. Ob Lattek oder Weisweiler, Hitzfeld oder Heynckes, Klopp oder Guardiola: Kein Trainer hatte je eine Bundesligasaison ohne Niederlage geschafft. Alonso schon. Mit „Vizekusen“. Und gleich in seiner ersten vollen Spielzeit.
Vor diesem Hintergrund bedeutete diese Woche seine Rückkehr unter die Menschheit. „Nicht auf dem besten Level“ sei auch er selbst gewesen, gab Alonso in Dublin zu. Beruhigend irgendwie, denn vorher musste man ja denken, dieser Trainer sei von einer KI entworfen worden: zu perfekt, um wahr zu sein. Intelligent, aber nicht verkopft. Entscheidungsstark, aber nicht störrisch. Kreativ, aber nicht um der Kreation willen. Berechenbar, aber nicht ausrechenbar. Ein Beobachter, kein Nachahmer. Ein Leader, der sich nicht zu wichtig nimmt. Fachlich ohne erkennbare Schwächen.
42 Jahre ist Alonso erst alt, aber dieses halbe Leben hat er fast komplett auf der Universität Fußball verbracht. Das ging schon mit der Geburt los.
Aufgewachsen mit baskisches Bodenständigkeit
Vater Periko Alonso, in dessen baskischer Heimatstadt Tolosa auch Xabi geboren wurde, ackerte als kampfstarker Mittelfeldspieler im nahen San Sebastián. Er gehörte zum Team der Real Sociedad, das 1981 und 1982 die einzigen Meisterschaften der Klubgeschichte gewann. Danach wechselte er unter anderem zum FC Barcelona, wo er unter den Trainern Udo Lattek und César Luis Menotti den Zulieferer für Diego Maradona gab.
Mit der Rückkehr nach San Sebastián begann Periko, als Trainer zu arbeiten. „Mein Vater war zweifelsohne mein erster Einfluss“, sagte Xabi mal: „Ich erinnere mich, wie ich als Acht-, Neunjähriger durch das Wohnzimmer wuselte, während er am Schreibtisch seine Sachen vorbereitete. Ich verstand nicht genau, was er machte, aber es vermittelte schon so ein Gefühl.“
Verließ er dann die elterliche Wohnung im Stadtteil Antiguo, kickte er mit seinem anderthalb Jahre älteren Bruder Mikel und seinem Kumpel Mikel Arteta, heute Trainer beim englischen Spitzenklub Arsenal, auf der Straße und am Strand. Nur die Mutter funkte gelegentlich dazwischen. Einmal verdonnerte sie ihn zu einem Monat ohne Ball, weil er in der Schule bei einer Spanisch-Prüfung durchgefallen war.
Die Anekdoten erzählen von einer normalen Kindheit und Jugend, ohne den anderswo üblichen Hype um Fußballtalente. In Alonsos Heimatprovinz Gipuzkoa legen sie viel Wert auf baskische Bodenständigkeit. Wenn die Gezeiten alle zwei Wochen die klassischen Schulfußballturniere am Atlantik erlauben, bauen die Kinder selbst die Tore auf und markieren das Spielfeld. Gekickt wird bei jedem Wetter, und das besteht oft tagelang aus Regen. Der Strand gilt in Gipuzkoa als die Charakterschule eines Fußballspielers.
Alonso lernte von den Branchenstars
Den Feinschliff gab es dann bei der Real Sociedad, wobei Alonsos Ausbilder erzählen, dass er vor allem mit seinem beidfüßigen Passspiel schon ungewöhnliche Fertigkeiten mitbrachte. Xabi debütierte wenige Tage nach seinem 18. Geburtstag in der ersten Mannschaft und avancierte nach der Rückkehr von einer Ausleihe ins benachbarte Eibar zum Mittelfeldanker einer Elf, über die sie in der Stadt bis heute sprechen.
Unter Trainer Raynald Denoueix gelang 2003 nicht nur eine unerwartete Vize-Meisterschaft – der Franzose revolutionierte auch die Spielphilosophie des Klubs. Den traditionell robusten Defensivstil britischer Prägung ersetzte Denoueix durch einen dynamischen Kombinationsfußball, den Real Sociedad seither in allen Abteilungen praktiziert – und der auch dem Geschmack des jungen Xabi sehr entgegenkam.
Einen „Visionär“ nannte Alonso diesen ersten wichtigen, aber oft vergessenen unter seinen Professoren, als er den ganzen Reigen mal durchging. Es folgten etliche der größten Trainernamen der vergangenen Jahrzehnte: Rafael Benítez („methodisch“) in Liverpool, José Mourinho („Persönlichkeit“) und Carlo Ancelotti („Fußball pur“) bei Real Madrid, Pep Guardiola („Genie“) bei den Bayern. Alonso hat von den Branchenstars gelernt, manche kreuzten einfach so seinen Weg, manche hat er gesucht wie Guardiola; seinetwegen wechselte er nach München. Nur den Argentinier Marcelo Bielsa und Jürgen Klopp hätte er auch noch gern erlebt, verriet Alonso.
Heute sagen seine Spieler über Alonso, was er früher über Guardiola sagte: „Er erklärt vor einem Spiel: ‚Das wird passieren‘, und genau das passiert dann.“ Den Gegner durchschauen – und ihm selbst Rätsel aufgeben: Beim zweiten Teil der Gleichung haperte es gegen Bergamo; das unkonventionelle, aggressive Mann-gegen-Mann-Pressing der Italiener „hätten wir vielleicht öfter mit langen Bällen überspielen sollen, aber das ist nicht unser Stil“, erklärte Alonso anschließend. Über sich selbst behauptet er zwar, dass „ich kein Fundamentalist bin, der nur eine einzige Spielweise zulässt“. Aber Ballbesitz und Passspiel als Grundlage sind unverhandelbar.
Bei Real Sociedad erinnern sie sich, wie er als Trainer der zweiten Mannschaft von 2019 bis 2022 selbst im Abstiegskampf der zweiten Liga immer sauber kombinieren ließ. In den großen europäischen Ligen hat diese Saison nur Guardiolas Manchester City mehr Pässe gespielt als Alonsos Leverkusen.
Die Parallelen zwischen Guardiola und Alonso
Es gibt spannende Parallelen auch in der Biografie der beiden Coaches. Beide waren als Aktive meisterliche Strategen vor der Abwehr, beide nutzten die zweiten Mannschaften ihrer Heimatklubs als Labor für ihre Trainerkarriere. Privat leben beide diskret mit drei Kindern an der Seite von Frauen, die sie jung in ihrer Heimat kennenlernten – und die beruflich mit Modeboutiquen zu tun haben: Guardiolas Cristina Serra führt mit ihrer Schwester einen alten Familienbetrieb weiter, Alonsos Nagore Aramburu hat ihr Geschäft für Kinderkleidung wegen Verlusten vor einigen Jahren geschlossen.
Doch es gibt auch Unterschiede zwischen dem Branchenprimus und demjenigen, der sein Nachfolger werden könnte. Anders als Guardiola, der sich öffentlich für eine Unabhängigkeit Kataloniens engagierte, meint es Alonso nicht politisch, wenn er sagt: „Ich bin Baske durch und durch, aber jetzt mit deutschem Einfluss.“ Dass bei Leverkusens Meisterfeier – vermeintlich zu seinen Ehren – „Viva España“ gespielt wurde, dürfte ihn zwar kaum begeistert haben, aber das kannte er schon vom FC Bayern; die Feinheiten des Königreichs erschließen sich eben nicht jedem.
Zum Selbstbild der Basken gehört ihre arbeitsame und ambitionierte, aber dabei eher zurückhaltende Art. In dem kleinen, sportverrückten Landstrich, aus dem fast unerklärlich viele Spitzentrainer kommen, halten sie viel davon, dass der Einzelne sich nie über der Gruppe stellt. Kooperativen zählen zu einer sehr präsenten Unternehmensform, und die „cuadrilla“ – zu Deutsch: Freundeskreis – aus der Kindheit begleitet fast jeden Basken durch das ganze Leben. „Wichtigtuerei und Unhöflichkeit“ nannte Alonso mal als Eigenschaften, die ihm besonders missfallen. In Leverkusen sind sie nicht umsonst hingerissen davon, wie allürenfrei und loyal er auftritt und als wie talentiert er sich im Management von Gruppendynamik erweist.
In San Sebastián erzählen sie, dass man ihn bei seinen Heimatbesuchen ganz normal durch das Zentrum flanieren sehen kann oder beim Joggen am Strand. Warum auch nicht? Wie diese Woche gezeigt hat, handelt es sich bei Xabi Alonso doch nicht um einen Außerirdischen. „Jeder wird daraus lernen, ich auch. Denn Finalniederlagen vergisst man nicht“, sagte er in Dublin. Es war eine Selbsterinnerung, dass selbst in einer Universität wie seiner der Stoff nie ausgeht, und die Konkurrenz darf das durchaus als Drohung verstehen. Xabi Alonsos Trainerkarriere hat ja gerade erst begonnen.