In der kurzen Pause vor der Verlängerung gab es in der Warteschlange vor einer Herrentoilette eine Kostprobe des sprichwörtlichen englischen Humors. Er müsse sich keine Sorgen machen, dass England das Spiel tatsächlich gewinne, sagte ein Fan im Trikot von West Ham United zu einem Fan im slowakischen Trikot. Denn Gareth Southgate sei sicher gerade dabei, sich zu überlegen, was denn er noch tun könnte, um dies zu verhindern. „Trust me“, sagte der englische Fan und klopfte dem Slowaken auf die Schulter: „Vertraue mir.“
Kaum, dass er es dies ausgesprochen hatte, drang lauter Jubel in den Umlauf der Schalker Arena: Die Verlängerung hatte bereits begonnen, sie nicht mal eine Minute alt – da hatte Harry Kane mit einem Kopfball das 2:1 erzielt. Dabei blieb es: England, bis dahin eine der größten Enttäuschungen dieser EM, zog ins Viertelfinale ein und trifft nun am kommenden Samstag in Düsseldorf auf die Schweiz.
Daran konnte weder die erneut über weite Strecken sehr schwache Leistung gegen die Slowakei etwas ändern – noch der in den vergangenen zwei Wochen immer mehr zur Zielscheibe von Häme und Spott gewordene Trainer. Ob es seinen vielen Kritikern passt oder nicht: Southgate und sein Team sind noch im Rennen.
Zu verdanken haben es die Engländer allerdings nur einem Mann: Jude Bellingham, der in der fünften und letzten Minute der Nachspielzeit einen langen Einwurf von Kyle Walker, geschickt von Marc Guehi verlängert, per Fallrückzieher im slowakischen Tor unterbrachte. Es war einer der schönsten Treffer des Turniers und für die Engländer, die in der 25. Minute durch Ivan Schranz in Rückstand gegangen waren. Kurz vor dem EM-Aus stehend, war es auch eine Erlösung.
„Wir waren zwanzig Sekunden vor dem Abflug, dann dreht sich alles“
Die Überraschung, dem Tod tatsächlich noch einmal von der Schippe gesprungen sein zu sein, stand dem Star von Real Madrid und seinen Kollegen ins Gesicht geschrieben. Als Bellingham die Arme hochriss, schaute er zunächst fast ungläubig, dann schien er sogar vor sich hin zu schimpfen.
Nach dem Schlusspfiff, als der ganze Druck eigentlich von ihm hätte abgefallen müssen, war Bellingham immer noch aufgewühlt und hin- und hergerissen zwischen Glücksgefühlen und Zorn wegen der anhaltenden Kritik der vergangenen Wochen.
„Wir waren zwanzig Sekunden vor dem Abflug, dann dreht sich alles. Man möchte ein solches Gefühl nie erleben, aber wenn es passiert, ist es einfach großartig“, sagte er. Sein Treffer sei einer der schönsten in seiner Karriere gewesen, er könne „ein Kickstart“ gewesen sein, damit England endlich richtig in dieses Turnier findet. „Für England zu spielen, ist schön, aber auch belastend, bei all dem Müll, der hier verbreitet wird“, erklärte der 21-Jährige. Damit dürften vor allem die englischen Medien und die zahlreichen Experten gemeint sein, die sich auf das Team und vor allem den Trainer eingeschossen hatten.
Der am heftigsten Kritisierte war nach dem Schlusspfiff erleichtert – auch wenn Southgate versuchte, sich dies nicht anmerken zu lassen. Er hätte immer damit gerechnet, dass der Ausgleich noch fallen werde, sagte der 53-Jährige. Kurz vor dem Einwurf von Walker, der dem Geniestreich von Bellingham vorausgegangen war, habe er Ivan Toney, den er gerade einwechseln wollte, gesagt: „Das kann der Moment sein, an dem wir das Spiel drehen.“ So sei es gekommen.
Planloses Anrennen und Probleme mit dem Pressing des Gegners
Außerdem, so Southgate, habe er die Spieler vor der Verlängerung an die WM 1966 erinnert, den letzten und einzigen Triumph der Engländer bei einem großen Turnier. Auch damals hätte es in der Gruppenphase Probleme gegeben, auch damals sei der Druck enorm gewesen.
Zumindest bewies Southgate bei seinen Einwechselungen ein glückliches Händchen. Tonay bereitete mit einer Kopfballvorlage den Siegtreffer von Kane in der ersten Minute der Verlängerung vor und leitete damit eine kaum noch für möglich gehaltene Stimmungswende ein. Die Fans, die lange Zeit gepfiffen und gespottet hatten, sangen nun „Sweet Caroline.“
Nach dem Schlusspfiff war dann das mitunter planlose Anrennen, die großen Probleme mit dem slowakischen Pressing und die hohe Anzahl von ungenauen Pässen vergessen. Denn trotz alledem: England lebt nach wie vor. „Dass wir uns steigern müssen, ist ganz klar. Und es wird auch wieder Kritik geben. Doch den Spirit kann unseren Spielern niemand absprechen“, sagte Southgate.
Der Mann, der England im Turnier gehalten hat, sieht es genauso. „Wir standen unter großem Druck, aber wir haben Charakter gezeigt“, sagte Bellingham. Gegen die Schweiz dürfte das allein jedoch nicht ausreichen.