Die Bilder von ihm auf der Dortmunder Süd-Tribüne gingen einmal um die Fußball-Welt. Liverpool-Legende Jamie Carragher (46), der als TV-Experte für den US-Sender CBS vor Ort war, mischte sich beim 1:0 im Hinspiel des Champions-League-Halbfinals gegen Paris St-Germain unter die BVB-Fans und erfüllte sich einen Lebenstraum. Beim Finale gegen Real Madrid ist er im Wembley-Stadion wieder vor Ort – und will mit seinen neuen Freunden den Titel feiern.
Frage: Mister Carragher, wie viel Bier haben Sie auf der „Gelben Wand“ getrunken?
Jamie Carragher: Es waren etwa fünf Pints (fünf Halbe; d. Red.). In der Sendung sagte ich aber acht, weil es sich eher so anfühlte. Euer Bier soll ja viel stärker als unseres sein (lacht).
Frage: Wie fühlte sich der nächste Morgen an?
Carragher: Trübe – aber glücklich. Wir hatten alle einen tollen Abend und eine tolle Nacht.
Frage: Haben Sie jemals etwas Vergleichbares erlebt – in Anfield vielleicht?
Carragher: Nie! Ich stand noch nicht als Liverpool-Anhänger auf „The Kop“. Dortmund war wohl die beste Atmosphäre, die ich bei einem Spiel erlebt habe. Ich fühlte mich in die Zeit als Kind zurückversetzt. So war es früher: Alle standen dicht zusammen, die Leute mischten sich ständig durch. Das haben wir so in England, wo es nur noch Sitzplätze gibt, nicht mehr. Es war wie in alten Zeiten.
Frage: Sie haben viele neue BVB-Freunde gewonnen. Wie sehr haben Sie denen gewünscht, dass es Dortmund ins Endspiel nach Wembley schafft?
Carragher: Ich wollte unbedingt, dass sie es ins Finale schaffen. Es ist schön, wenn ein Traditionsverein mit einem Lauf dorthin kommt. Mein Erlebnis auf der „Gelben Wand“ war unglaublich, und es ist Jürgen Klopps frühere Mannschaft. Das spielte alles da mit rein. Daher war ich sehr glücklich, dass sie PSG mit all deren Stars und dem vielen Geld besiegt haben. Eine fantastische Geschichte!
Frage: Werden Sie in Wembley dem Dortmund-Fanblock wieder einen Besuch abstatten?
Carragher: Klar, das ist Pflicht. Die Fans werden das sicher verlangen. Das wollte auch Trainer Edin Terzic. „Big“ Micah Richards (Carraghers TV-Kollege bei CBS; d. Red.) wird beim Finale für Real Madrid sein, ich für Dortmund. Da werden wir beide wohl bei den jeweiligen Fans Hallo sagen.
Frage: Sie bekamen in Dortmund einen Schal geschenkt. Tragen Sie den beim Finale?
Carragher: Den werde ich zu 100 Prozent dabeihaben. Ich kaufe bestimmt noch einen vor dem Stadion, werde mir so viele Borussia-Dortmund-Fanartikel wie möglich besorgen. Ich werde so viel Gelb tragen, wie es mir CBS im Fernsehen erlaubt. Wenn es darum geht, meine Unterstützung zu zeigen, werde ich nicht schüchtern sein.
Frage: Die BVB-Fans singen vor Spielen ebenfalls die Liverpool-Hymne „You’ll never walk alone“. Wie finden Sie das als Liverpool-Legende?
Carragher: Ich finde es fantastisch, wenn andere Klubs das auch singen. Celtic und Dortmund tun es bereits, je mehr, desto schöner! Ich liebe es!
Frage: Wie kann Dortmund das Finale gegen Real Madrid gewinnen?
Carragher: Sie müssen so weiterspielen wie bisher – gegen Atlético Madrid und PSG. Natürlich ist Real der klare Favorit, aber Dortmund kann gewinnen. Sie müssen die Favoritenrolle gegen Real verwenden und als Underdog die Energie der Zuschauer nutzen. Sie haben PSG in beiden Halbfinals gestoppt. Jetzt haben sie die Chance eines Boxers zum K.o. durch einen Lucky Punch.
Frage: Auf welche Spieler kommt es besonders an?
Carragher: Jadon Sancho und Julian Brandt mit ihren Attacken plus Niclas Füllkrug. Am wichtigsten ist aber, dass Dortmund als Team auftritt. Sie haben nicht die individuelle Klasse von Real. Wenn ich mich an Jürgen Klopps BVB-Team von 2013 erinnere, war das auch ein Team. Klar hatten sie tolle Einzelspieler, aber auch dort war die Einheit entscheidend.
Frage: Wie lautet Ihr Tipp?
Carragher: Ich tippe auf ein 2:1 für Dortmund, nach Verlängerung.
Frage: Mit welchem Dortmunder würden Sie nach einem Sieg gern mit Bier anstoßen?
Carragher: Mats Hummels. Mit ihm würde ich gern ein Bier trinken. Er ist wie ich früher ein Verteidiger, ein Klassespieler, Weltmeister. Er war Teil der Dortmund-Teams von Klopp, ging dann zu Bayern und kehrte zurück. Eine großartige Geschichte! Ihm fehlt noch diese eine große Trophäe in seinem Lebenslauf. Er war brillant in den beiden PSG-Spielen.
Frage: Hat sich Klopp nach Ihrem Besuch auf der „Gelben Wand“ bei Ihnen gemeldet?
Carragher: Nein, aber ich bin sicher, dass er sehr neidisch ist. Das wird er in den nächsten Jahren bestimmt auch gern einmal machen. Es wäre großartig, wenn er auf der „Gelben Wand“ steht und auch auf „The Kop“. Denn er ist ein normaler Typ. Alle lieben ihn!
Frage: Wo steht Klopp für Sie in der Reihe von großen Trainern wie Shankly, Paisley und Dalglish?
Carragher: Er gehört ganz oben dazu. An Shankly und Paisley wird bei Liverpool nur schwer jemand vorbeikommen, weil von ihnen Liverpool überhaupt erst groß gemacht wurde. Aber direkt dahinter kommt Klopp. Er hat den Verein – und wie alle über ihn denken – komplett verändert. Bevor er 2015 kam, waren wir einige Jahre nicht in der Champions League. Dahin hat er uns zurückgebracht. Wir standen mit ihm dreimal im Finale, gewannen eines. Nächste Saison sind wir wieder für die Königsklasse qualifiziert. Wenn die Leute Liverpool hören, denken sie an die Champions League. Wir sind berühmt für unsere sechs Erfolge in dem Wettbewerb, hatten Pech, dass es nicht sieben wurden. Aber Jürgen hat uns den Glauben zurückgegeben, dass wir zu den besten Teams in Europa gehören. Hoffentlich geht der Erfolg unter dem nächsten Trainer so weiter. Das Fundament dafür hat Klopp gelegt.
Frage: Sollte ihm Liverpool eine Statue bauen?
Carragher: Bisher haben wir zwei für Shankly und Paisley. Vielleicht sollte erst Kenny Dalglish dran sein und dann Jürgen. Aber nach Kenny ist auch schon eine Tribüne benannt, vielleicht können wir das auch bei Jürgen so machen.
Frage: Wo sollte Klopp als Nächstes Trainer werden?
Carragher: Egal, wo auch immer er als Nächstes landet, ganz Liverpool wird hinter ihm stehen. Solange es nicht Everton, Manchester United oder City ist. Oder eigentlich irgendein anderes englisches Team. Dann können wir ihn nicht unterstützen. Aber falls er Bayern München, die deutsche Nationalmannschaft, Real Madrid oder den FC Barcelona trainieren sollte, unterstützen wir ihn – nur nicht gegen Liverpool.
Frage: Ihre Fußball-Show bei CBS mit Richards, Thierry Henry und Moderatorin Kate Abdo ist die unterhaltsamste der Welt. Wie nehmen Sie den Hype darum wahr?
Carragher: Der Erfolg ist wirklich riesig, und das Besondere ist: Die Zuschauer in England und Deutschland können gar nicht die gesamte Übertragung gucken, sondern nur die Clips auf Social Media. Wir wissen genau, welche Wirkung wir dort haben. In keiner anderen Show dürfte ich mich auf die „Gelbe Wand“ stellen. Wir haben eine WhatsApp-Gruppe, in der wir Ideen austauschen. Uns dann einfach machen zu lassen, ist das Verdienst der Produzenten und Regisseure. Wir haben noch einiges im Köcher für die Zukunft!
Frage: Wie sind die Rollen von Ihnen vieren in der Runde?
Carragher: Micah Richards hat eine riesengroße Persönlichkeit, unfassbares Charisma, mit seiner Energie kann kein anderer Experte mithalten. Das gilt auch für das Fußball-Wissen von Thierry Henry. Er schaut so viel Fußball, ist wie eine Enzyklopädie für Ligen und Spieler. Kate ist einfach die ultimative Gastgeberin. Ihr gelingt es, genau die richtige Atmosphäre im Studio zu schaffen.
Frage: Mit Sancho führten Sie ein sehr unterhaltsames Interview in Dortmund. Wie sehr hätten Sie sich eine solche Atmosphäre zu Ihrer Profi-Zeit gewünscht?
Carragher: Das Tolle ist, dass die Spieler unbedingt zu uns kommen wollen, das war bei Jadon auch so. Manchmal ist Fußball zu ernst. Es geht nur um Druck und Entlassungen. Da braucht man auch mal ein lockeres Gespräch und ein paar Witze.
Das Interview wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, SPORT BILD, BILD) geführt und zuerst in SPORT BILD veröffentlicht.