Das erste Aufeinandertreffen mit dem Kellner im „Santa Rita“ ist ein wortloses. Schweigend räumt er den Tisch ab, bedeckt ihn mit einem Papiertischtuch so sorgfältig, als würde er ein Kind wickeln, stellt einen Brotkorb, Butter und eingelegte Oliven ab. Dann passiert lange nichts.
Wenn Sie glauben, Sie könnten vorschnell agieren und bei dieser Gelegenheit gleich Ihre Bestellung aufgeben, da Sie – organisiert, wie Sie sind – bereits die Menükarte vorab studiert und ausgewählt haben, was Sie essen möchten: Vergessen Sie es gleich wieder. Der Kellner hört sich Ihre Wünsche an, wenn er dazu bereit ist, nicht, wenn Sie es sind. Irgendwann, wenn Sie nach langem Warten denken, Teil der Einrichtung zu werden, baut er sich vor Ihnen auf, zückt seinen Notizblock und freut sich darauf, Ihre Bestellung aufzunehmen.
Wenn Sie Glück haben, nimmt er auf, was Sie wollen. Vielleicht sagt er Ihnen aber, was Sie essen werden. Einmal erlebte ich, wie ein britisches Ehepaar nach Hamburgern fragte. Der Kellner, es war José, fing an, wild mit den Armen zu fuchteln, und rief: „Hamburger? Estamos em Portugal. Wir sind in Portugal. Sie essen hier sicher keine Hamburger! Sie essen heute Dorade.“ Und damit war die Bestellung abgeschlossen, José wieder fort, die Gäste erstaunt – und zu Recht beschämt.
Mit Sicherheit wird Ihnen José oder sein Kollege Clemente einreden, den Hauswein zu trinken, am besten gleich einen mittelgroßen Krug. Widersetzen Sie sich nicht, lassen Sie es einfach geschehen. Leicht angeschickert lässt sich die Stadt genauso gut erkunden.
Die Gastronomie ist in ständigem Wandel
Restaurants, Fressbuden und Churrascarias, Grillläden, gibt es in Lissabon wie Sand am Meer. Und wie die Strände sich durch die Gezeiten verändern, so wandelt sich die Gastronomieszene dieser Stadt in regelmäßigen Abständen. Zwar nicht im selben Rhythmus, aber ähnlich im Ergebnis: Nichts ist mehr, wie es vorher war.
Die Tasca ums Eck, Lissabons urtypische Ess- und Trinktaverne, die vor einem Jahr noch gut lief, musste weichen: einer Fast-Food-Kette, einem Investor, der ein überteuertes Café plant, oder einem anderen hippen Genusstempel. Wo vor Kurzem noch eine Straße abrissreifer Hausruinen stand, protzen nun Szenelokale, Lounges und Bars im Parterre.
Lissabon expandiert rasend schnell. Alfama, Bairro Alto, Chiado und Cais do Sodré, die die längste Zeit als coole Viertel galten, ziehen zwar noch immer die Massen an, treten aber mehr und mehr in den Hintergrund. Die Hipsterfizierung geht munter weiter, sucht und findet alte Orte mit leer stehenden Fabrikgebäuden und Lagerhallen, um ihnen neuen Glanz einzuhauchen.
In den vergangenen Jahren wurde es um die LX Factory in Alcântara sehr laut, ebenso um das Bairro Príncipe Real. Derzeit mausern sich Beato und Marvila zu den neuen In-Vierteln der Stadt, mit Coworking-Arbeitsplätzen, Kunstevents, Start-ups, Bartpflegeläden.
Lissabon ist ein Paradies für Foodies
Wohin also gehen, um gut zu essen? TripAdvisor und Lonely Planet vertrauen? Den Empfehlungen der Lisboetas folgen? Die Gourmetklassiker wie „Ramiro“ oder „José Avillez“ aufsuchen? Ganz ehrlich: Eigentlich ist es egal!
Selbst die Touristenfallen im Stadtzentrum, deren Kellner mit ausgebreiteten Speisekarten und falschem Lächeln Passanten ins Lokal locken, bieten – wenn auch völlig überteuert und nicht gerade mit Liebe zubereitet – immer noch annehmbare Küche, die schmeckt. Keine Gourmetwunder, aber ordentliche Kost.
Lissabon ist ein Paradies für Foodies, also für Liebhaber von Speisen und Getränken – und hat sich in den vergangenen 20 Jahren diesen Titel wahrlich verdient. Allen voran durch Michelin-Sternekoch José Avillez. Mittlerweile gibt es in der Metropolregion acht Restaurants mit Michelin-Stern, einige davon tragen sogar zwei.
Mittlerweile kann man in Lissabon genauso gut essen wie in New York, Lima, London oder Paris – nicht nur in erstklassigen, alteingesessenen Tascas und Lokalen, die traditionelle Gerichte servieren, sondern ebenso in modernen Kochstuben, die man noch vor 15 Jahren vergeblich gesucht hätte.
Gute Küche, schlechter Service – typisch für Portugal
Also, vertrauen Sie Ihrem Instinkt, und betreten Sie Restaurants, die Ihnen auf den ersten Blick nicht ins Auge springen. Auf die Art entdeckte ich vor einigen Jahren das „Santa Rita“, ein Bilderbuchbeispiel portugiesischer Gastronomie: gute Küche, schlechter Service. Unscheinbar von außen, unspektakulär von innen. Fernab von Michelin & Co. Einst eine Hufschmiede, später eine Zementfabrik, heute ein Raum mit 70 Sitzplätzen, auf denen mittags wie abends die Gäste Platz nehmen: Bauarbeiter neben Galeristen, Anwälte neben Fotografen, Beamte neben Polizisten, Lisboetas neben ausländischen Besuchern.
Reichen die Tische nicht aus, zaubern die Kellner von irgendwo Holzplanken her und schaffen 20 weitere Plätze, indem sie die Tische zu Tafeln verlängern. Die steinernen Arkadenbögen am Gewölbe haben etwas Altertümliches. Dem gegenüber stehen die Zeichen der Moderne: elektrisches Licht, das in wagenradförmigen Lüstern den hohen Raum erhellt. Das Restaurant ist schlicht und zugleich altmodisch.
Seinen Namen verdankt das „Santa Rita“ einer italienischen Nonne, die zugleich Schutzpatronin der Metzger und jene Heilige ist, zu der die Menschen in aussichtslosen Fällen beten. Rita zu Ehren prunkt eine Statue mitten auf der Theke. Denn eine ihrer größten Verehrerinnen war Conçeicão Pinto, die als Dona, also als Restaurantgründerin, bis vor wenigen Jahren selbst hinter der Bar wankte, bevor sie zu ihrer Angebeteten in den Himmel aufstieg – oder, wie man in Lissabon sagt: Ela fui com os porcos – Sie ging mit den Schweinen.
Sie „wankte“ nicht etwa, weil die Besitzerin selbst ihre beste Kundin gewesen und dem Hauswein verfallen war, sondern weil sie ihren kreisrunden Leib bei jedem Schritt im Wiegegang mit sich schleppte, eingepackt in eine weiße Kittelschürze. Ihr Haar versteckte sie unter einer Kochhaube, ihre Beine waren mit Wasser gefüllt und in schwarze Wollstrümpfe gepackt, aber ihre Laune glich der eines heiteren Schulmädchens.
Warum auch nicht? Die Bude war stets rammelvoll. Und ist es noch immer, weshalb es sehr laut werden kann: Gespräche, Stühlerücken, Geschirrklappern, Gläserklirren – die Musik der Gastronomie. Dafür bleiben die Gäste mit Liedern aus dem Lautsprecher verschont. Seit Conçeicão Pintos Abgang erinnern einige Fotos an den sonst kahlen Wänden an die Verstorbene, die gute Seele des Lokals.
Wehren Sie sich nicht gegen die Kellner
An ihrer Stelle steht heute die weitaus agilere Schwiegertochter, Teresa Jesus, und wacht über die Kellner im „Santa Rita“, die bedienen, wann es ihnen beliebt und wenn es ihre Zeit erlaubt. Sie machen das nicht aus böswilliger Absicht, ihr Rhythmus und ihr Tempo sind einfach andere, flexiblere. Lisboetas müssen die Herausforderungen in ihren Leben, egal welche, nicht im Eiltempo erledigen und umgehend ein Resultat sehen. Das wäre völlig unportugiesisch – und gerade diese Eigenschaft macht die Menschen so sympathisch.
Etwa die beiden Kellner José und Clemente, die zusammen 121 Jahre zählen. Für sie gilt es, die vorwiegend portugiesischen Gäste, die mit der Dehnbarkeit des Zeitbegriffes bestens vertraut sind und diese ebenso zelebrieren, zu unterhalten. Das gehört zum Spiel. Es sind nur Besucher aus dem Ausland, die sich an der hiesigen Zeitmessung stoßen. Gehen Sie daher niemals hungrig essen – oder bringen Sie zusätzlich zum Hunger am besten eine Portion Geduld mit.
Vielleicht schwatzen Ihnen die Kellner Feijoada de marisco auf, oder Bacalhau espiritiual, den „spirituellen“ Stockfisch, eine Spezialität des Hauses, deren Ursprung in der französischen Küche liegt. Wehren Sie sich nicht gegen diese Empfehlungen – alles ist vorzüglich, Sie können also nichts falsch machen.
Ist die Bestellung, egal welche, einmal durch, geht es gleich zur Sache. Die Köche im „Santa Rita“ arbeiten wesentlich flinker als ihre Kollegen im Service, sind ihnen allerdings numerisch auch weit überlegen, da vorwiegend nur die beiden genannten Kellner arbeiten. José und Clemente sind fleißig, dennoch haben sie, ihrem Alter entsprechend, ein paar Gänge zurückgeschaltet.
Das zeigt sich dann, wenn das fertige Gericht auf der Theke vor sich hin dampft, bereit, dem Gast serviert zu werden – während der Kellner allerdings indisponiert ist. Kommen Sie keinesfalls auf die Idee, aufzustehen und den Teller selbst zu holen, auch wenn das verlockend ist, da Ihnen der Magen knurrt! Ihr Essen kommt, wenn der Kellner dazu bereit ist, nicht, wenn Sie es sind.
Vielleicht ist es dann sogar das Gericht, das Sie oder er bestellt haben. Vielleicht ist es aber auch etwas ganz anderes. Wenn Sie Glück haben, erhalten Sie eine Portion mehr, wenn Sie Pech haben, einen Teller weniger. Nehmen Sie es, wie es kommt. Ausgezeichnet wird es in jedem Fall schmecken.
Noch eine Überraschung beim Bezahlen
Wenn Sie aufgegessen haben, Kaffee und Dessert in Ihrem Magen arbeiten und Sie eigentlich nur noch auf die Rechnung warten, wird Ihre Geduld noch einmal so richtig auf die Probe gestellt. Sie können diesen Prozess auch nicht abkürzen, indem Sie dem Kellner winken, dreimal „Die Rechnung, bitte!“ rufen, böse zum Personal schauen oder an die Bar gehen, um dort das Geld auf den Tresen zu legen.
Sie bezahlen, mittlerweile wissen Sie es bereits, wenn der Kellner dazu bereit ist – und wieder: Er macht das nicht, um Sie zu ärgern, sondern weil er die einfache Formel befolgt, die scheinbar alles entschuldigt – selbst den nicht suchenden Blickkontakt: Estamos em Portugal.
Dafür kann es noch einmal umso unterhaltsamer werden: Einer der beiden kommt, kritzelt irgendwelche Beträge auf das benutzte Einwegtischtuch, nennt die errechnete Summe mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht, nimmt Ihr Geld entgegen und verschwindet damit.
Später kehrt er verwirrt zurück, murmelt etwas vor sich hin, während er in seinem Notizblock stöbert und das Gekritzelte auf dem Tisch ausbessert, bis die Summe eine andere ist. Wahrscheinlich zu seinen Gunsten – das suggeriert zumindest sein Lächeln, das nun ein erhabenes, aber freundliches ist. Zahlen müssen Sie dennoch, auch hier bleibt Ihnen keine Wahl.
Der Text ist ein gekürztes Kapitel aus dem gerade in aktualisierter Neuauflage erschienenen Buch „Gebrauchsanweisung für Lissabon“ von Martin Zinggl, Piper Verlag/piper.de, 224 Seiten, 16 Euro.