Die Region Tamil Nadu
Goa, Mumbai, Neu-Delhi, Rajasthan prägen weitgehend das Indien-Bild. Doch es gibt ein Indien mit einer anderen, ganz eigenen Magie: den Süden des Subkontinents, und dort den Bundesstaat Tamil Nadu. Das Land der tamilischen Sprache, so die Übersetzung, bietet eine komplett eigenständige, uralte Kultur, die sich von der Nordindiens stark unterscheidet.
Indiens südlichster Staat entstand erst 1956 anhand der Sprachgrenzen in seiner heutigen Form. Tamil ist eine dravidische Sprache und damit maßgeblich anders als die indoarischen Sprachen Nordindiens wie Urdu und Sanskrit. Englisch, von den einstigen Kolonialherren ins Land gebracht, ist ebenfalls Amtssprache.
Tamil mit seiner über 2000-jährigen Literaturgeschichte wird sogar von einer eigenen Göttin verkörpert: Tamil Annai, „Mutter Tamils“. Neben den gut 70 Millionen Tamilen im Süden Indiens leben auf der nicht weit entfernten Insel Sri Lanka gut drei Millionen weitere tamilischsprachige Menschen.
Westliche Besucher sind regelmäßig begeistert von der exotisch anmutenden tamilischen Kultur, der Musik, den Speisen, Tänzen, Festen. Nicht nur Touristen, auch viele indische Pilger – die Region ist ganz überwiegend hinduistisch – zieht es in die über 34.000 Tempel Tamil Nadus. Zu den besonderen Orten zählt Mamallapuram, eine Unesco-Welterbestätte mit Hindu-Baudenkmälern aus dem siebten bis neunten Jahrhundert.
Dazu bietet Tamil Nadu eine vielfältige Natur, von den bewaldeten Bergen der Westghats bis zu der mehr als 1000 Kilometer langen Küste. Es gibt fünf Nationalparks, darunter Guindy, ein urbaner Nationalpark in Tamil Nadus Hauptstadt Chennai (früher bekannt als Madras), und Mudumalai, der schon 1940 gegründet wurde. Hier und in vielen weiteren Schutzgebieten bekommen Besucher bei Touren mit etwas Glück Königstiger, Elefanten und Leoparden vor die Kamera. Entspannung wird auch geboten: Viele Resorts bieten Ayurveda-Kuren an.
Tanzen in fantasievollen Kostümen
Aus Tamil Nadu stammen viele alte, teils bizarre Tänze Indiens. Berühmt ist der klassische Bharatanatyam. Mimik und Handhaltungen der Tänzerin im Sari, die meist solo auftritt, sind komplex. Denn sie bewegt sich nicht einfach zu südindischer Musik, sondern stellt tanzend beliebte Sagen der hinduistischen Mythologie dar. Gleichzeitig betont sie mit ihren Fußglöckchen den Rhythmus.
Beim Volkstanz Karakattam hingegen balancieren Frauen geschmückte Wasserbehälter auf dem Kopf. Beeindruckend ist auch der Pfauentanz Mayilattam zur Huldigung des lokalen Kriegsgottes Murugan. Sein Reittier ist ein Pfau, entsprechend verkleiden sich Tänzer mit Pfauenfedern so, als ob sie auf einem solchen Vogel säßen.
Dagegen wird beim religiösen Pferdetanz Poikkaal Kuthirai Aattam ein Reitpferd aus Pappe getragen – mit Holzbeinen für kunstvolles Hufgeklapper. Und beim Schlangentanz Paampattam ehren junge Mädchen das heilige Reptil, indem sie es in Schlangenkostümen auf dem Boden kriechend imitieren.
Die Ziege ist ein Schaf
Der Nilgiri-Tahr ist ein Meister der Täuschung. Zwar bedeutet der Name des offiziellen Staatstiers von Tamil Nadu übersetzt „Ziege der Blauen Berge“, doch es ist gar keine echte Ziege, sondern wird zoologisch zu den Schafen gezählt. Weltweit existieren nur 2000 bis 2500 Exemplare des Paarhufers, schätzen Wissenschaftler. Damit ist er noch rarer als der Königstiger, Indiens Staatstier (von dem es laut Naturschutzorganisation WWF rund 4000 gibt).
Der Nilgiri-Tahr lebt in freier Wildbahn ausschließlich in den Nilgiri-Bergen. Wilderei und Lebensraumzerstörung machen dem Ziegenschaf zu schaffen, obwohl es streng geschützt ist. Der Mukurthi-Nationalpark, der anfangs Nilgiri-Tahr-Park hieß, wurde eigens für seinen Erhalt geschaffen. Wer das Glück hat, ein Exemplar zu erspähen, sollte sich nicht täuschen lassen: Dass es Hörner hat, bedeutet nicht, dass es ein Männchen ist – die Weibchen tragen auch welche.
Die Tempel gehören zum Unesco-Welterbe
Je nach Licht leuchtet er in Ocker, Gelb, Orange oder Rot: Der Brihadishvara-Tempel ist ein spektakuläres Meisterwerk aus Granit. Geweiht dem Hindugott Shiva, wurde es 1010 von Rajaraja I. errichtet, dem „König der Könige“. Heute ist der Tempel in Thanjavur, einst Hauptstadt des alten Chola-Reiches, berühmt als einer der wichtigsten Südindiens. Und zählt zum Welterbe der Großen Tempel der Chola-Dynastie, zusammen mit dem zweiten Brihadishvara-Tempel (in Gangaikonda Cholapuram) und dem Airavatesvara-Tempel in Darasuram, beide ebenfalls in Tamil Nadu.
Begründung der Unesco: Sie sind besonders kreative und herausragende Bauten des puren Dravida-Stils, einer typisch südindischen Tempelarchitektur mit pyramidenförmigen Türmen. Für die Besichtigung der Anlagen sollten sich Besucher viel Zeit nehmen. Und eine Spende hinterlassen, wie es bei Tempelbesuchen generell erwünscht ist. Shiva wird es danken.
Die einzige Zahnradbahn in Indien
Zwölf Stationen hat die historische Nilgiri Mountain Railway. Indiens einzige Zahnradbahn, eröffnet 1899 von den Briten, stampft bis heute per Dampflok hinauf in die Nilgiri-Berge. Bekannt als „Toy Train“ („Spielzeugzug“), zählt sie zum Unesco-Welterbe.
Die Strecke führt vorbei an Wasserfällen, durch Dschungel, Teeplantagen, 16 Tunnel und über 250 Brücken von Mettupalayam bis nach Ooty (Udhagamandalam). Die Endstation liegt 2240 Meter hoch – es ist einer jener kühlen Berg-Kurorte aus der Kolonialzeit, wo britische Offiziere gern zur Sommerfrische weilten.
Das Zitat
„Das Wort Curry leitet sich vom tamilischen Kari ab, das Sauce oder Würze bedeutet“
Ramesh Chandra Jha, Englischprofessor am MLSM-College in Darbhanga, beschreibt damit eine gängige Theorie zur Namensherkunft des indischen Nationalgerichts, das sich in vielen anderen Weltküchen wiederfindet. Berühmt ist das scharf-aromatische Madras-Curry, das den alten Namen Tamil Nadus trägt.
Neben Currys gibt es in dem Bundesstaat eine Fülle von Gerichten, die hierzulande kaum bekannt sind. Etwa Dosa – eine Art Pfannkuchen aus Bohnen-, Linsen- oder Reis-Teig, serviert mit herzhaften Füllungen und Chutneys. Oder Paruppu Payasam, ein süßes Linsenpudding-Dessert mit Kokosmilch.
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