WELTGo!
Ihr KI-Assistent für alle Fragen
Ihr KI-Assistentfür alle Fragen und Lebenslagen
Artikeltyp:MeinungBlick nach rechts

Die AfD ist keine „NSDAP 2.0“

Veröffentlicht am 08.07.2024Lesedauer: 7 Minuten
Auf dem Bild sieht man links einen Aufmarsch der NSDAP 1933, in der Mitte eine Demonstration von AfDlern und rechts den Kopf von Kommentator Till-Reimer Stoldt
Für Freunde grobkörniger Wahrnehmung gibt es zwischen NSDAP- und AfD-Aufmärschen kaum einen Unterschied – und das ist folgenschwer, meint Till-Reimer StoldtQuelle: picture alliance/akg-images; picture alliance/dpa/Christoph Soeder; Catrin Moritz

Die AfD besteht aus einem Haufen Nazis – diese Behauptung gilt vielen Antifaschisten längst als Tatsache. Aber sie machen es sich zu leicht, fördern damit politische Sehschwäche und verharmlosen die Gefahren diesseits des Hitlerismus. Da hilft nur ein differenzierterer Blick nach rechts.

Anzeige

Wer bei der AfD mitmacht, ist ein Nazi – diese Überzeugung war vergangenes Wochenende in Essen häufig zu hören. Dorthin hatte die AfD zum Parteitag geladen. Zehntausende Demonstranten gingen dagegen auf die Straße. Während ihrer Proteste skandierten sie „Nazis raus“, teilweise auch die mörderische Parole „Ein Baum, ein Strick, ein Nazigenick“. Und auf Plakaten wurde die Rechtspartei zur „NSDAP 2.0“ gekürt.

Diese Gleichsetzung von AfDlern und Nazis, von AfD und NSDAP ist jedoch so falsch wie kontraproduktiv. Deshalb sollte sie tunlichst vermieden werden. Nicht allein aus strategischen Gründen, sondern auch aus intellektueller Redlichkeit.

Anzeige

Wer wird hier reingewaschen?

Aller Wahrscheinlichkeit nach dürfte diese Feststellung gleich Missverständnisse hervorrufen. Vor allem eines: Soll die AfD hier verharmlost, gar reingewaschen werden? Um diesem Eindruck vorzubeugen, sei vorab gesagt: Das Urteil, die AfD sei eine Art Nachfolgepartei der NSDAP, ist nicht komplett abwegig.

Es sind ja wirklich Fälle junger AfDler dokumentiert, die am Hitlergruß viel Freude hatten. Auch sagte ein ehemaliger AfD-Sprecher einst, man könne Migranten gerne „erschießen oder vergasen“. Der Bundestagsabgeordnete Mathias Helferich nannte sich „das freundliche Gesicht des Nationalsozialismus“. Und Björn Höckes Kokettieren mit NS-Symbolen und -Begriffen ist bekannt. Alle AfDler bewegen sich in einem gefährlichen Milieu. Aber sind sie deswegen auch allesamt Nazis?

Anzeige

Nein, wenn man den Experten vom Verfassungsschutz glaubt. Dessen Bundesamt notierte Ende 2023, es gebe unter rund 30.000 AfD-Mitgliedern „ein extremistisches Personenpotenzial von etwa 10.000 Personen“. Kein Zweifel: Das ist schockierend. Ein Drittel Rechtsextreme in einer Partei, die im Bundestag sitzt! Aber das heißt umgekehrt: Zwei Drittel galten Ende 2023 eben nicht als rechtsextrem. 2024 stufte der Verfassungsschutz zwar die gesamte AfD als rechtsextremen Verdachtsfall ein. Das bedeutet dem Geheimdienst zufolge aber keinesfalls, dass sich alle bislang nicht extremen Mitglieder schlagartig in Rechtsextreme verwandelt hätten. Entscheidend sei nur, wo die maßgeblichen Mitglieder stünden. Laut dem Hause Haldenwang sind also nicht alle AfDler rechtsextrem.

Dass die identifizierten Rechtsextremen in der AfD allesamt Nazis wären, behaupten die Verfassungsschützer mit keinem Wort. Zwar ist jeder Nazi ein Rechtsextremer, umdrehen kann man den Satz aber nicht. „Es ist unangemessen, wenn man jeden Rechtsextremisten pauschal und undifferenziert als ‚Nazi‘ bezeichnet“ – daran erinnern Extremismusforscher wie Rudolf van Hüllen, langjähriger Experte beim Bundesamt für Verfassungsschutz, immer wieder.

Kein Nazi ohne die zwölf Jahre

Was zu weiterer Begriffsklärung nötigt: Was ist denn ein Nazi? Der Begriff wurde als Kürzel für Anhänger des Nationalsozialismus geprägt. Also die nächste Frage: Was ist Nationalsozialismus? Die Kurzantwort ist unter Historikern unstrittig. Hier die Definition des „Wörterbuchs zur Geschichte“ von Fuchs und Raab: Der NS ist „die von 1933 bis 1945 in Deutschland herrschende totalitäre Bewegung“.

Definiert ist er durch das, was die Nazis in jenen zwölf Jahren taten und versuchten. Man kann ihn von seiner historischen Entfaltung nicht abstrahieren. Heutige Nazis halten also im Großen und Ganzen für vorbildlich, was sich ihre braunen Ahnen zwischen 1933 und 1945 zuschulden kommen ließen.

Vergasen, eliminieren, versklaven – ist das AfD-Programm?

Ein heutiger Nazi ist demnach jemand, der in etwa Folgendes möchte: einen Krieg anzetteln, Lebensraum im Osten für die sogenannte „arische Herrenrasse“ erobern, einen „rassischen Vernichtungskampf“ führen (Heinrich August Winkler), das europäische Judentum physisch eliminieren, Behinderte als sogenanntes „lebensunwertes Leben“ auslöschen, Millionen Slawen töten, vertreiben oder versklaven, ein Protektorat bis weit nach Russland hinein errichten und obendrein nicht ein autoritäres Regime, sondern eine maximal totalitäre Diktatur aufbauen. Will das die gesamte AfD?

Blickt man auf ihr Programm, muss man das bezweifeln. Es enthält zwar bedenkliche Absonderlichkeiten (etwa den Austritt aus der EU). Aber eine Nazi-Agenda bietet es nicht. Was ein Vergleich desselben mit dem neonazistischen Programm der NPD verdeutlicht. Da darf man dem Historiker, AfD-Beobachter und „FAZ“-Redakteur Patrick Bahners zustimmen: „Das NPD-Parteiprogramm setzt voraus, dass unser demokratisches System durch eins ersetzt werden soll, das dem des Nationalsozialismus ähnelt. Und das kann man der AfD nicht vorhalten.“

Auch das gibt es: Stramm rechtskonservativ, aber nicht Nazi

Blickt man aufs AfD-Personal, scheint das Alles-Nazis-Verdikt ebenfalls zu grob. Was sich etwa in der NRW-AfD zeigt: Da ist die aus Albanien eingewanderte Fraktionsvize Enxhi Seli-Zacharias, die in ihrer Partei dafür wirbt, Deutschsein nicht biologisch, sondern rein kulturell zu begreifen. Oder der Abgeordnete Markus Wagner, Vater eines farbigen Sohns, der mehrfach Björn Höcke öffentlich wegen schwarzenfeindlicher Aussagen rügte.

Schließlich der Landesvorsitzende Martin Vincentz, der früher offen vor Björn Höcke warnte und unablässig versucht, die schlimmsten Rechtsausleger aus der Landespartei zu drängen (wie den erwähnten Helferich oder die eigene Parteijugend). Diese Gruppe um Vincentz wird von vielen ostdeutschen AfDlern als „Klub der Libkons“ (Liberal-Konservativen) geschmäht. „Klub strammer Rechtskonservativer“ träfe es wohl eher. Wie auch immer. Man kann diesem „Klub“ vieles vorwerfen, auch hetzerische Töne, nicht aber Nationalsozialismus.

Nicht jeder Rechtsdrall führt zu Hitler

Nun wendet mancher ein, das Gros der AfDler bewege sich mit seinen nationalistischen, autoritären, teils biologistischen Tendenzen zumindest auf den Nationalsozialismus zu, sozusagen in Richtung Hitler. Warum solle man sie dann nicht als Nazis bezeichnen? Im Landtag NRW antworteten AfD-Fraktionäre darauf einmal mit der Rückfrage, ob Sozis denn auch Stalinisten seien. Die Frage war berechtigt. Dieser Logik zufolge wäre jeder moderat Linke ein radikal Linker und damit jeder Sozialdemokrat ein Stalinist.

Denn auch moderate Linke bewegen sich, von der Mitte aus besehen, nach Links, hin zum äußersten Linksextremismus, also in Richtung Stalin. Solche Gleichsetzungen sind Unsinn. Offenkundig ist man nicht identisch mit den radikalsten und äußersten Vertretern einer Richtung, in die man sich bewegt. Ebenso offenkundig trennen einen Sozialdemokraten Welten von einem Stalinisten.

Nicht stichhaltig ist auch das Argument, nach dem man alle Parteimitglieder als Nazis bezeichnen dürfe, wenn auch nur einige in der Partei Nazis seien. Sind dann auch alle Sozialdemokraten wegen ein paar entflammten Jusos wilde Sozialisten? Diesem Muster folgend wären auch die Christdemokraten, die in Essen gegen die AfD protestierten, linksextreme Schläger. Denn diese CDUler gehörten zur Gruppe der Gegendemonstranten. Und unter denen waren linksextreme Schläger. Selbstredend wäre auch diese Gleichsetzung absurd. Es sind nicht automatisch alle Teile einer Gruppe identisch – selbst wenn die einen die anderen in irgendeiner Form decken oder salonfähig machen.

So wird Kritik an der AfD überzeugender

Verharmlost man die AfD, wenn man sie derart differenziert betrachtet? Keineswegs. Wer die Nazi-Keule behutsam zückt, kann umso glaubwürdiger den verheerenden Zustand der Partei beschreiben und den weniger Radikalen in der AfD ihre tatsächlichen Verfehlungen vorwerfen – insbesondere ihre faktische Kumpanei mit Extremisten. Sie haben Rechtsextremisten wie Björn Höcke einstweilen akzeptiert. Und wagen es inzwischen nicht mehr, ihm offen die Stirn zu bieten. Dazu ist er zu mächtig, was auf einen Offenbarungseid der Moderateren hinausläuft. Wer darauf hinweist, ohne alle AfDler über einen (Nazi-)Kamm zu scheren, argumentiert überzeugender, weil er sachlich bleibt.

Wer dagegen alles radikal Rechte unterschiedslos als „Nazi“ brandmarkt, sendet obendrein eine fatale Botschaft aus: die Botschaft, auf der politischen Rechten gebe es nur eine Gefahr – die Nazis. Damit stumpft man das Wahrnehmungsvermögen der Zeitgenossen ab. Und bringt sie um die Erkenntnis, dass auch diesseits des Hitlerismus Gefahren lauern. Nationalismus kann auch ohne paranoiden NS-Antisemitismus Kriege entfachen und unfassbares Leid verursachen. Rechtsstaatsverachtung kann auch ohne totalitäre NS-Diktatur Gefängnisse in grauenhafte Folterkeller verwandeln.

Man wünschte manch heutigem Antifaschisten die Weite und Redlichkeit des 2005 verstorbenen SPD-Intellektuellen Peter Glotz. Im Kampf gegen Rechtsaußen warb der kluge Linke stets für Differenzierung. Er riet, präzisere Begriffe für die Beschreibung der Ultra-Rechten zu verwenden, um keine politische Sehschwäche zu fördern. Und wurde er gefragt, warum die Rechte denn so viel intellektuelle Bemühung verdiene, fragte er fast schnippisch zurück, seit wann man sich für Differenzierung rechtfertigen müsse.