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Neue KZ-Gedenkstätte

Zu Besuch in der Geheimfabrik des Schreckens

Autorenprofilbild von Andreas Fasel
Von Andreas FaselRedakteur Nordrhein-Westfalen
Veröffentlicht am 21.05.2024Lesedauer: 7 Minuten
Über eine Fläche von 6500 Quadratmetern erstreckte sich die unterirdische Schmieröl-Raffinerie im Jakobsberg
Über eine Fläche von 6500 Quadratmetern erstreckte sich die unterirdische Schmieröl-Raffinerie im JakobsbergQuelle: Michael Horst

In Porta Westfalica ließen die Nazis Stollen graben, um darin ihre Rüstungsfabriken zu verstecken. Die Anlage hat den Ruf eines Lost Place mit besonderem Gruselfaktor. Doch ein Verein sorgt dafür, dass darüber das Andenken an die KZ-Häftlinge nicht vergessen wird, die dort unter grausamsten Bedingungen arbeiten mussten.

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Es ist ein Ort, der direkt an einer vielbefahrenen Durchgangsstraße liegt und doch schwer zu finden ist. Hinter einer Baustelle führt ein Weg ab von der Bundesstraße 482 auf einen Behelfsparkplatz, der direkt am Fuß des steil ansteigenden Jakobsbergs liegt. Hinter Metallgittern ist hier ein großes, mit Backsteinen vermauertes Loch im Fels zu sehen. Dies ist der Eingang zum Gelände einer alten unterirdischen Fabrik. Im Zweiten Weltkrieg sollte dort, von feindlichen Aufklärungsfliegern nicht einsehbar, Schmieröl produziert werden. Die Raffinerie war noch nicht fertig, da ging der Krieg zu Ende.

Seit einiger Zeit kümmert sich ein Verein um die verlassenen, gespenstisch anmutenden Höhlen von Porta Westfalica in Ostwestfalen (Nordrhein-Westfalen) und organisiert Führungen. In einem Forschungsprojekt trug man in den letzten Jahren Fakten und Materialien zusammen.

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Und vor wenigen Wochen eröffnete der Verein als Ergänzung zum Untertage-Schauplatz eine Gedenkstätte. In einem kleinen Container-Museum, einen kurzen Spaziergang über die Weser entfernt, werden Hintergründe vermittelt. Vor den Containern stehen zwölf Stelen mit Texten, in denen die Menschen zu Wort kommen, die am Ausbau der Untertage-Fabrik beteiligt waren: Häftlinge eines eigens dafür angelegten Konzentrationslagers.

Thomas Lange vom Verein KZ Gedenk- und Dokumentationsstätte vor dem kürzlich eröffneten Container-Museum
Thomas Lange vom Verein KZ Gedenk- und Dokumentationsstätte vor dem kürzlich eröffneten Container-MuseumQuelle: Andreas Fasel

Thomas Lange arbeitet für den Verein KZ-Gedenk- und Dokumentationsstätte. Der Historiker ist 45 Jahre alt und stammt aus der Gegend. Als Kind sei er auf dem Weg zum Schwimmbad regelmäßig an der einstigen Geheimfabrik vorbeigekommen, erzählt er. „Damals hieß es immer, da seien die Flugzeuge der Nazis drin oder solche Sachen.“

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In den 1990er-Jahren entdeckten Abenteuerlustige die Stollen als Spielplatz mit Nervenkitzelgarantie, in den sie durch alte Luftschächte hineinkletterten. Etwa zur selben Zeit setzte eine erste wissenschaftliche Aufarbeitung ein, angestoßen durch Schüler, die sich für einen Geschichtswettbewerb mit dem Konzentrationslager in ihrer Stadt beschäftigt und den Bericht eines französischen Überlebenden übersetzt hatten.

Diese beiden Themen zu verbinden – die unterirdische Fabrik mit schaurigem Lost-Place-Gruselfaktor, und das KZ mit seinen Abgründen an Grausamkeit – das ist die Herausforderung für die Vereinsmitarbeiter bei ihren Führungen. Von einem KZ ist dort unten nichts zu bemerken. Dem Stollen ist nicht anzusehen, wie viel Gewalt und Leid den Menschen zugefügt wurde, die darin arbeiteten.

Direkt an einer vielbefahrenen Durchgangsstraße gelegen und doch schwer zu finden: Eingang zur Anlage „Dachs I“
Direkt an einer vielbefahrenen Durchgangsstraße gelegen und doch schwer zu finden: Eingang zur Anlage „Dachs I“Quelle: Andreas Fasel

Nachdem Thomas Lange die Stahltür aufgeschlossen hat, tritt der Besucher in die Vorhalle von „Dachs I“, wie die Anlage genannt wurde. Sie war Teil der sogenannten Untertage- oder auch U-Verlagerung, mit der die NS-Regierung ab 1944 die Rüstungsindustrie vor der Bombardierung durch die Alliierten schützen wollte. Porta Westfalica war zunächst für die Fertigung von Flugzeugteilen vorgesehen. Dann änderten sich die Pläne, nun sollte eine Produktionsstätte für hochwertige Motorenöle aufgebaut werden.

Von einem aufgelassenen Sandsteinbruch ausgehend, ließ man dazu drei bis zu 230 Meter lange, teilweise in mehrere Etagen unterteilte Stollen in den Berg graben. Professionelle Bergleute aus Kohlenrevieren übernahmen die Sprengarbeiten, die KZ-Häftlinge mussten vor allem den Schutt ausräumen und andere schwere körperliche Arbeiten verrichten.

Über eine Fläche von 6500 Quadratmetern erstreckte sich die Anlage. Die Technik, die Gutachten der Alliierten zufolge zu 90 Prozent fertiggestellt war, wurde nach dem Krieg abgebaut. Ursprünglich wollten die Alliierten auch die Stollen sprengen – so wie bei den Hallen einer weiteren Untertage-Verlagerung, die in Sichtweite am anderen Weserufer unter dem Kaiser-Wilhelm-Denkmal in den Berg gegraben worden war. Doch Geologen warnten, am Jakobsberg könne die nach oben abschließende Sandsteinplatte durch eine Sprengung nach vorne kippen und einen gigantischen Bergsturz auslösen.

Einer der Stollen war komplett mit Klinkern ausgemauert, er sollte als gigantischer Öl-Tank dienen
Einer der Stollen war komplett mit Klinkern ausgemauert, er sollte als gigantischer Öl-Tank dienenQuelle: Michael Horst

So kommt es, dass „Dachs I“ eine der wenigen U-Verlagerungen ist, die in Gänze zu besichtigen ist. Der Andrang sei groß, sagt Thomas Lange. An Wochenenden biete der Verein sechs Führungen pro Tag an – und dennoch seien die Termine mittlerweile anderthalb Jahre im Voraus ausgebucht.

Zu sehen sind: die Klinker-Mauern, die aus einem der Stollen einen einzigen gigantischen Öltank machen sollten – in dem allerdings nie ein Tropfen Öl lagerte. Die Betonsockel, auf denen die Technik verbaut war. Eine 26 Meter hohe Halle, in der die beiden Raffinerie-Türme standen. Die Übergänge in eine weitere mehrstöckige Anlage, genannt „Stöhr I“, in der Elektronenröhren für die Philipswerke produziert wurden.

Es gibt allerdings Bereiche, die von Besuchergruppen nicht betreten werden dürfen. In den Treppenhäusern zu den Transformatoren-Räumen besteht Absturzgefahr. Und für eine Begehung der Versorgungsschächte, die schräg durch den Berg laufen, sollte man besser eine Klettersicherung tragen.

Das Hotel Kaiserhof, in dessen Festsaal ein KZ-Außenlager eingerichtet wurde, links: kurz nach Kriegsende, rechts: heute
Das Hotel Kaiserhof, in dessen Festsaal ein KZ-Außenlager eingerichtet wurde, links: kurz nach Kriegsende, rechts: heuteQuelle: Dänisches Freiheitsmuseum, Kopenhagen; Andreas Fasel

Die Führungen würden auch dabei helfen, mit Mythen und Legenden aufzuräumen, die sich im Lauf der Jahrzehnte um „Dachs I“ gebildet hätten, sagt Lange. „Immer wieder wurde behauptet, es gebe einen Stollen bis ins acht Kilometer entfernte Bergwerk von Kleinenbremen. Oder von hier führe ein Tunnel unter der Weser hindurch. Andere sagen, hier befinde sich ein geheimer Nato-Stützpunkt.“ Lange kann zeigen: Nichts davon ist wahr.

Am 4. März 1944 fasste die NS-Regierung den Beschluss zum Aufbau der Untertage-Verlagerung in Porta Westfalica. Kurzerhand quartierten sich die zuständigen SS-Offiziere in das nahe gelegene Hotel Kaiserhof ein. Aus dem Festsaal im Hinterhof ließen sie Tische und Stühle räumen und die Zapfanlagen abmontieren – fertig war das KZ-Außenlager. „Und schon am 18. März traf der erste Transport mit 300 Häftlingen aus Buchenwald ein, die im Stollen arbeiten sollten“, erklärt Lange.

Die neuen Stelen mit den Häftlingsberichten sowie die Museumscontainer hat der Gedenkstättenverein direkt gegenüber dem Hotel Kaiserhof platziert. Endlich habe man neben dem nur eingeschränkt zugänglichen Stollen im Jakobsberg einen Ort mit Außenwirkung, sagt Lange. Tausende Ausflügler, die zum Kaiser-Wilhelm-Denkmal wollen, kommen hier vorbei.

Der Festsaal des Hotels Kaiserhof, in dem die KZ-Häftlinge zusammengepfercht wurden. Hier in einer Aufnahme, die wenige Jahre nach Kriegsende gemacht wurde
Der Festsaal des Hotels Kaiserhof, in dem die KZ-Häftlinge zusammengepfercht wurden. Hier in einer Aufnahme, die wenige Jahre nach Kriegsende gemacht wurdeQuelle: Dänisches Freiheitsmuseum, Kopenhagen

Der einstige Festsaal wurde zwar vor einigen Jahren durch eine Reithalle ersetzt – doch sie steht auf denselben Fundamenten und hat dieselben Abmessungen. Sogar die Zugangswege der Häftlinge kann Historiker Lange zeigen. Die Forschung geht davon aus, dass bis zu 3000 KZ-Häftlinge nach Porta Westfalica gebracht wurden, neben dem Festsaal hinterm Hotel Kaiserhof gab es noch zwei weitere, kleinere Lager. Wie viele davon bis Kriegsende starben, ist völlig unklar. Zahlen gibt es nur für eine Gruppe dänischer Widerstandskämpfer. Von diesen 225 Männern hätten rund 40 Prozent nicht überlebt, sagt Thomas Lange.

Zu den Merkwürdigkeiten der geheimen Raffinerie von Porta Westfalica gehört, dass die Bewohner der Stadt tagtäglich mitansehen konnten, wie die KZ-Häftlinge vom Hotel Kaiserhof durch den Ortsteil Barkhausen über die frühere Weserbrücke zum Stollen im Jakobsberg marschieren mussten. Auch der rapide körperliche Verfall der Häftlinge war also kein Geheimnis, sondern ging öffentlich vonstatten. Die Schilderungen von Überlebenden sind erschütternd: Hunger, Misshandlungen, Krankheiten. Der Kaiserhof-Festsaal, in den am Ende 1500 Häftlinge gepfercht waren, muss die Hölle gewesen sein.

Es gibt zwar nur wenige schriftliche Berichte über das Leben im Lager Porta, aber es gibt sie: Jorgen Kieler schildert in seinem Buch „Dänischer Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ (Offizin-Verlag Hannover) den Zustand der Häftlinge mit dem Blick des angehenden Mediziners. Die Arbeit im Stollen beschreibt eindrücklich der Franzose Pierre Bleton („Das Leben ist schön! Überlebensstrategien eines Häftlings im KZ Porta“, AJZ-Verlag Bielefeld). Und die Ungarin Gita Mann hat im Selbstverlag ihre Erinnerungen an die Arbeit in den Röhrenwerken herausgegeben.

In diesem Saal lebten bis zu 1500 KZ-Häftlinge, die Schlaflager wurden vierstöckig aufgetürmt. Erhängungen fanden mitten im Raum statt
In diesem Saal lebten bis zu 1500 KZ-Häftlinge, die Schlaflager wurden vierstöckig aufgetürmt. Erhängungen fanden mitten im Raum stattQuelle: Dänisches Freiheitsmuseum, Kopenhagen

Kieler hat auch festgehalten, wie das Gewaltsystem organisiert war. Wer versuchte zu fliehen, wurde zwischen den vierstöckig aufgetürmten Bettstellen erhängt. Viele starben nach den Prügeln eines sadistischen Kapos. Eine gefürchtete Züchtigung habe darin bestanden, einen Häftling mit dem Hals an die Rohranschlüsse der ehemaligen Zapfanlage zu fesseln. Wer vor Erschöpfung zusammenbrach, erdrosselte er sich selbst.

Später wurde diese Zapfanlage wieder in Betrieb genommen. Denn schon wenige Jahre nach Kriegsende wurde im selben Saal so gefeiert, als wäre nichts gewesen. Mittlerweile ist der Kaiserhof allerdings eine Schrottimmobilie, das Fachwerk sieht aus wie ein ausgehöhltes Gerippe, ein „Lost Place“ – so wie der Stollen im Jakobsberg. Der Eigentümer, ein Investor, ging pleite. Der Gedenkstättenverein hofft nun, dass dieses wichtige Zeugnis einer düsteren Geschichte erhalten werden kann.