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Selbstmordgefahr im Gefängnis

Suizidgefährdete Häftlinge „völlig unzureichend und unverantwortlich“ behandelt

Von Till-Reimer Stoldt
Veröffentlicht am 23.07.2019Lesedauer: 6 Minuten
In Haftanstalten bündeln sich Risikofaktoren für Selbstmorde: Drogensucht, psychische Störung, Gewalt
In Haftanstalten bündeln sich Risikofaktoren für Selbstmorde: Drogensucht, psychische Störung, GewaltQuelle: picture alliance/dpa

2019 gab es bereits vier Selbstmordfälle in NRW-Gefängnissen. Für psychisch erkrankte Häftlinge gibt es kaum Hilfen. Um Suizide zu verhindern, müsste das Land Hunderte Millionen Euro investieren. Justizminister Biesenbach bringt das in eine Zwickmühle.

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War das noch derselbe Justizminister? Der Mann, der sonst fast immer heiter wirkt und zumindest leicht lächelt? So fragten sich die Zuhörer vor gut sechs Monaten. Mit ernster Miene und in ernstem Ton appellierte Peter Biesenbach damals an die Mitglieder der Expertenkommission: „Tun Sie alles, alles!“ Dann setzte er fort: „Alles, damit sich in keiner JVA ein Vorfall wie der vom 17.9.2018 in Kleve wiederholt.“ Das sei ein Gebot der Humanität. Im Justizministerium, wo dieser dramatische Appell erfolgte, traf der CDU-Minister jetzt erneut die Experten der Kommission. Die hatte Biesenbach vor gut sechs Monaten eingerichtet, um die Sicherheit von Häftlingen und Personal in den 36 Justizvollzugsanstalten des Landes zu erhöhen. Auslöser dafür war die Tragödie vom September 2018 in Kleve.

Da starb der zu Unrecht inhaftierte Syrer Ahmad A. bei einem Brand in seiner Zelle. Mutmaßlich hatte der wohl psychisch erkrankte Häftling selbst das Feuer gelegt. Die Vollzugsbediensteten stürmten noch in die Zelle, den Tod des 26-Jährigen konnten sie aber nicht verhindern. Stattdessen erlitten sie selbst teils lebensgefährliche Rauchvergiftungen. Es blieb nicht der letzte Selbstmord. 2019 kam es bereits zu vier weiteren Suiziden in NRW-Gefängnissen.

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Quelle: Infografik WELT

Umso eiliger erarbeiteten die sieben Experten um Heiko Manteuffel, den langjährigen Chef der Kölner Staatsanwaltschaft, ihre Vorschläge. Mit denen setzen sie den Minister nun massiv unter Druck. Denn was sie ihm raten, wird er kaum kurzfristig umsetzen können. Dafür sind ihre zentralen Empfehlungen schlicht zu teuer. Deren Umsetzung würde etliche Hundert Millionen Euro kosten. Die vermag Biesenbach beim besten Willen nicht auf die Schnelle aus seinem verplanten Haushalt herauszuschneiden – was ihn in eine veritable Zwickmühle manövriert hat. Schon weil er die Kommission anfangs so gedrängt hatte, muss er deren Empfehlungen aufgreifen. Aber er weiß nicht wie.

Darauf nahm das Gremium keine Rücksicht. Ihren mit Abstand teuersten Vorschlag unterbreitete sie dort, wo sie auch den dringendsten Handlungsbedarf erkannte: bei der Betreuung psychisch kranker Gefängnisinsassen. Deren Situation sei „bedrückend“, sie bedürfe „dringender Verbesserung“ und habe die Kommission „betroffen gemacht“, berichtete Manteuffel. Konkret meinte er damit vor allem eins: Akut psychisch erkrankte Häftlinge müssen oft über zwölf Monate warten, bis sie einen Platz in dem einzigen forensischen JVA-Krankenhaus in NRW bekommen. Bis dahin bleiben sie in den Zellen der damit überforderten JVA – ohne angemessene medizinische Betreuung und Therapie. „Dies ist aus Sicht der Kommission völlig unzureichend und unverantwortlich“, urteilte Kommissions-Experte Michael Skirl. Immerhin steige bei psychotischen Erkrankungen und natürlich auch bei unbehandelten Depressionen die Suizidgefahr stark an.

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Die Not psychisch kranker Häftlinge

Was sich vor allem bei akut Erkrankten für Szenen abspielen, wenn diese in der JVA einen Anfall erleiden, malte Skirl zwar nicht im Detail aus. Der langjährige Leiter der JVA Werl sprach aber von Situationen, in „denen ein Mensch völlig außer sich gerät“ und das Personal vor immense Probleme gestellt sei. So hatte sich vor Monaten bereits Peter Brock, Landesvorsitzender des Bunds der Strafvollzugsbediensteten (BSBD), geäußert. Auch er hatte gewarnt, erstens litten die erkrankten Häftlinge in den normalen JVA, zweitens bänden „diese Menschen enorm viel Personal, wenn sie zum Beispiel einen psychotischen Anfall bekommen“. In der Regel werden sie dann in eine videoüberwachte Einzelzelle verlegt, in der sie unruhig, angespannt, halluzinierend und unter problematischen hygienischen Bedingungen leben. Die Kommissionsmitglieder besuchten etliche Vollzugsanstalten mit solchen Patienten und berichteten anschließend, ihr Anblick sei „nicht einfach auszuhalten“ gewesen.

Laut BSBD-Chef Bock leben in den 36 JVA „allemal 250 Menschen, die dort fehl am Platze sind und in den Maßregelvollzug gehören“ – also in eine Anstalt für psychisch kranke Straftäter. Weil ihre Erkrankung bei der Verurteilung aber nicht aufgefallen war, wurden sie zu Haftstrafen in einer normalen JVA verurteilt. Doch für diese mindestens 250 Kranken werden landesweit nur 30 Behandlungsplätze bereit gehalten – im einzigen Justizvollzugskrankenhaus des Landes in Fröndenberg.

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Um für diese Gruppe eine schnelle angemessene Betreuung sicherzustellen, müssten mindestens 130 zusätzliche Plätze für psychisch kranke Häftlinge geschaffen werden, forderte die Kommission. Es seien neue Klinikgebäude, also Forensiken, und zusätzliches Personal nötig, was Kosten im dreistelligen Millionenbereich verursachen dürfte, so rechnete Experte Skirl dem neben ihm sitzenden Justizminister am Dienstag vor.

Mit diesem Vorschlag hat die Kommission der Landesregierung eine schwere Bürde auferlegt. Schließlich löst der Bau einer Anstalt für psychisch kranke Täter meist so massive Widerstände vor Ort aus, dass schon mehrere Ex-Minister dies als ihre unangenehmste Aufgabe überhaupt bezeichnet haben. Auch werden sich viele andere der insgesamt 53 Kommissions-Empfehlungen nur mit viel Geld realisieren lassen. Dazu gehören unter anderem eigene Notrufsysteme und feuerfeste Matratzen für im Jahresdurchschnitt rund 16.000 Häftlinge, Notrufgeräte und Brandhauben für die 6327 Vollzugsbediensteten – und Fassadenüberwachung in allen 36 JVA möglichst mit Infrarot-Kameras, um Wärmeentwicklung in den Zellen zu entdecken.

Plant das Land Abhilfe erst ab 2021?

Noch musste der Minister aber nicht bekannt geben, welche dieser Vorschläge er umsetzen wird. Denn auch für ihn seien die Kommissionsergebnisse ja „komplett neu“, sagte er. Nun müsse das Gutachten erst einmal intensiv studiert werden. Spätestens am 11. September wird er sich ausgiebiger äußern müssen. Dann ist das Gutachten Thema im Rechtsausschuss des Landtages. Was dort vom Minister gefordert werden dürfte, zeichnete sich jetzt schon ab. Da verlangten die Justizpolitiker von SPD und Grünen die „vollständige Umsetzung aller Maßnahmen“ (SPD-Politiker Sven Wolf) – und das „schnellstmöglich“ (der Grüne Stefan Engstfeld). Hier gehe es um des Ministers Glaubwürdigkeit.

Wie die Koalition mit diesem Drängen umgehen wird, zeichnete sich nun ebenfalls ab. Während der Vorstellung des Berichts am 16. Juli betonten die Kommissionsmitglieder noch, das Ministerium werde schon „in absehbarer Zeit“ eine Studie vorlegen, um Not und Hilfebedarf psychisch kranker JVA-Insassen exakt zu beziffern. Auf dieser Basis könne man dann politisch handeln. Doch bereits zwei Tage später korrigierte das Justizministerium diese Aussage. Auf Anfrage von WELT erklärte ein Sprecher, „die Datenerhebung zu psychisch kranken Gefangenen“ werde „nach hiesiger Einschätzung frühestens 2021 zu aussagekräftigen Ergebnissen kommen“. Wohlgemerkt: frühestens.

Haben Sie suizidale Gedanken oder haben Sie diese bei einem Angehörigen/Bekannten festgestellt? Hilfe bietet die Telefonseelsorge: Anonyme Beratung erhält man rund um die Uhr unter den kostenlosen Nummern 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222. Auch eine Beratung über das Internet ist möglich unter http://www.telefonseelsorge.de. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention: https://www.suizidprophylaxe.de/hilfsangebote/adressen/.

Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.

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Quelle: WELT AM SONNTAG