WELTGo!
Ihr KI-Assistent für alle Fragen
Ihr KI-Assistentfür alle Fragen und Lebenslagen
Sportlich trotz Übergewicht

„Man fühlt sich besser, wenn man nicht der Einzige ist, der etwas mehr wiegt“

Von Anne Klesse
Veröffentlicht am 25.09.2023Lesedauer: 5 Minuten
Alexander Conradi (3. v.r e.) mit seinen SC Victoria Belugas
Alexander Conradi (3. v.r e.) mit seinem SC Victoria BelugasQuelle: Bertold Fabricius

In Hoheluft-West gibt es jetzt die erste Fußballmannschaft für Männer mit Übergewicht. Alexander Conradi hat sie gegründet, damit die Spieler ohne Druck oder Scham trainieren können. Der Hamburger Fußball-Verband sieht solche speziellen Teamgründungen kritisch und wünscht sich stattdessen mehr Offenheit.

Anzeige

Als die Sonne hinter den Wohnhäusern verschwindet und nur noch die Flutlichter den Sportplatz an der Gärtnerstraße in Hoheluft-West beleuchten, beginnen die schweren Jungs mit dem Training. Der Jüngste noch Teenager, der Älteste über 50, treffen sie sich hier seit Kurzem freitagabends und trainieren. Alexander Conradi freut sich über jeden Einzelnen seiner bunt zusammengewürfelten Mannschaft: Sie sind die SC Victoria Belugas, Hamburgs erste Fußballmannschaft für Menschen mit Übergewicht.

Die Idee habe er schon länger mit sich herumgetragen, erzählt Conradi. Vorbild sind die „Heavy Kickers“ in Nordrhein-Westfalen, die sich 2019 gegründet hatten, um „beim Fußballtraining unter Gleichgesinnten wieder aktiv und fit zu werden“. Und zwar ohne die Sorge, dabei schief angeschaut zu werden. Denn das kennen alle, die an diesem Abend hier zusammen gekommen sind: abschätzige Blicke, herabwürdigende Kommentare, ungefragte Ratschläge und Abnehmtipps, Vorurteile, auch Beleidigungen.

Anzeige

Der Durchschnittsmann wiegt 86 Kilogramm

Auch Conradi selbst hat mehr auf den Rippen als der Durchschnittsmann in Deutschland, der laut Statistik auf 1,80 Meter rund 86 Kilogramm auf die Waage bringt. In seiner Jugend habe er immer viel und gern Fußball gespielt, erinnert sich der 24-Jährige. Doch dann kamen die Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann und verschiedene Jobs, die Freizeit war knapp und die Jahre vergingen, dann kam auch noch Corona und mit der Pandemie noch weniger Bewegung. „Jetzt wollte ich endlich wieder anfangen zu spielen, hatte auch ein paar Probetrainings in Vereinen, aber das passte einfach nicht“, erzählt er.

Das Problem: Andere, durchschnittlich gebaute Spieler bewegen sich meist schneller auf dem Feld, sind flinker und beweglicher, haben eine bessere Ausdauer. „Der Wille war schon lange da, aber es ist superschwierig, den Einstieg zu finden“, sagt auch Felix Raabe, der mit 35 Jahren bereits zu den Älteren bei den Belugas gehört. „Auf dem Platz muss man viel laufen, sprinten, stoppen, weiter sprinten. Das geht auf die Gelenke. In anderen Mannschaften konkurriere ich mit jungen Männern aus der A-Jugend – da kann ich einfach nicht mithalten.“

Anzeige

Verband wünscht sich inklusive Mannschaften

In Hamburg hatte Conradi Vereine kontaktiert und wochenlang nach Trainingsmöglichkeiten gesucht. Beim SC Victoria fühlte er sich sofort verstanden und gut unterstützt. „Mir wurde gesagt, dass man vollstes Vertrauen in mich und das Projekt habe“, so Conradi. Der Hamburger Fußball-Verband (HFV) beheimatet 400 Vereine mit knapp 200.000 Mitgliedern. Präsident Christian Okun sieht den Verband als „große Fußballgemeinschaft, die viele verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Sichtweisen, unterschiedlicher Herkunft und verschiedener Ausrichtung zusammen bringt“ und verweist auf bestehende Angebote. Bei sogenannten „walking football“-Mannschaften etwa sei das Laufen untersagt, dort fielen körperliche Vorteile weg. „Mit diesem Wettbewerbsangebot fördert der HFV gezielt Mannschaften, in denen Personen mit Beeinträchtigungen spielen.“

Separierende Angebote werden im Verband eher skeptisch gesehen. Die Belugas fühlen sich jedoch wohl mit ihrer eigens gebildeten Mannschaft: Startvoraussetzung ist ein Body-Mass-Index (BMI) über 30. Dieser errechnet sich aus dem Körpergewicht in Relation zur Größe, je nach Alter und Geschlecht liegt der medizinisch in der Regel empfohlene BMI rund um den Wert 20. Gewogen wird beim SC Victoria aber nicht, jeder schätzt sich selbst ein. Um das Training auf eine professionellere Ebene zu heben, akquirierte Conradi seinen Kumpel Marcel Seremak. Die beiden kennen sich aus ihrer Jugendzeit vom gemeinsamen Fußballspielen in Niendorf. Der 25-jährige Seremak ist mittlerweile ausgebildeter Personal-Trainer und verantwortet bei den Belugas nun das Athletiktraining.

Sie wünschen sich weitere Mitspieler

Wenn alle kommen, sind die Belugas zu elft, deshalb wünschen sie sich weitere Mitspieler. Conradi wirbt für seine Idee unter anderem auf dem Instagram-Kanal scvictoria_belugas, so erfuhr auch Lucas Gallasch davon. Früher habe er American Football gespielt und viel Kraftsport gemacht, erzählt der 27-Jährige. „Da hilft Masse.“ In der letzten Saison habe er dann zum ersten Mal wieder Fußball in einem Verein gespielt, wo sein Körperbau plötzlich kontraproduktiv war. „Ich wurde ins Tor gestellt, wollte aber auch gern mal Feldspieler sein“, sagt er. Doch athletisch habe er mit den anderen dort nicht mitziehen können.

Ähnlich ging es Murat Firat. Der 25-jährige Student hatte eine Knie-OP und versucht nun, wieder in Form zu kommen. Fußball habe er immer schon gern und viel gespielt, gerade lerne er für die B-Trainerlizenz. Conradis Aufruf auf Instagram sah er zufällig, nun ist er seit dem ersten Training dabei. „Man fühlt sich besser, wenn man nicht der Einzige ist, der etwas mehr wiegt“, sagt er. In anderen Teams spiele er oft im Zentrum, da dort weniger Tempo nötig sei. „In dieser Mannschaft kann ich auf jeder Position spielen, das ist super.“

Trainieren ohne Druck und Scham

Und so ist die Motivation der Spieler, bei den Belugas mitzumachen ebenso unterschiedlich wie ihr Hintergrund, manche haben schon jahrelang gespielt, andere fangen gerade erst an. „Wenn sie erst mal ein hohes Körpergewicht haben, trauen sich viele nicht in den Sportverein, weil sie Angst vor schlechten Erfahrungen und Diskriminierung haben“, sagt Conradi. Gerade junge Männer möchte er motivieren: „Statt zu Hause vor der Konsole zu zocken, können wir gemeinsam Sport an der frischen Luft machen und viel erreichen“, ist er überzeugt. Sein Ziel ist es, dass alle ohne Druck oder Scham einfach Spaß am Spiel haben, zusammenhalten – und am Ende auch Gewicht verlieren. Und, so Conradi: „Ich würde mir wünschen, dass wir irgendwann geschlossen in eine reguläre Herrenmannschaft aufrücken.“ So oder so sollen die Belugas aber bestehen bleiben. „Gut wäre, wenn auch andere Vereine solche Mannschaften ins Leben rufen. Es gibt definitiv Bedarf dafür.“

Sein Vorbild, die „Heavy Kickers“, haben seit diesem Jahr sogar ihre eigene kleine Liga, die „1. Übergewichtigen Fußballliga NRW“. Sechs Teams sind dort bislang gelistet. Die Belugas müssen vor ihren ersten Spielen aber erst mal trainieren. Also lässt Athletiktrainer Seremak die Mannschaft zwischen den Flutlichtern warmlaufen, dann sollen sie in Reihe Ausfallschritte machen, dribbeln, sprinten, hüpfen. Später am Abend kicken sie eine Runde. Niemand meckert, wenn ein Ball nicht richtig getroffen wird oder jemand nicht schnell genug ist. Alle wollen bloß Spaß haben und Fußball spielen. Es wird viel geschwitzt im Schein der Flutlichter. Am Ende gehen die Männer erschöpft, aber sichtbar zufrieden nach Hause.