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Hamburger Bürgerschaftswahl

Wie Extremisten über TikTok auch die Landesparlamente torpedieren

Von Anne Klesse
Veröffentlicht am 07.07.2024Lesedauer: 7 Minuten
Die Hamburgische Bürgerschaft, das Parlament der Stadt, wird im März 2025 neu gewählt
Die Hamburgische Bürgerschaft, das Parlament der Stadt, wird im März 2025 neu gewähltQuelle: Bertold Fabricius/Pressebild.de

Wenn demokratische Parteien bei jungen Leuten punkten wollen, müssen sie vor der Bürgerschaftswahl 2025 auf TikTok aktiv werden, sagt Marcus Bösch. Der Experte für Desinformationskampagnen rät davon ab, die chinesische Videoplattform bei der politischen Kommunikation außen vorzulassen.

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Zur Europawahl wurde viel über die Parteipräferenzen junger Wählerinnen und Wähler diskutiert – und wie groß der Einfluss beliebter Apps wie TikTok war. Acht Monate vor der Bürgerschaftswahl in Hamburg im Frühjahr 2025, bei der wieder ab 16 Jahren gewählt werden darf, sind trotzdem nur wenige Hamburger Parteien, Politikerinnen und Politiker auf der Videoplattform aktiv. Und während die Jusos Hamburg gerade mal rund 800 Follower zählen, scheinen die anderen Jugendorganisationen überhaupt nicht vertreten zu sein. Eigene Accounts von Bürgerschaftsabgeordneten gibt es kaum. Im Interview ordnet Marcus Bösch von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Experte für TikTok und Desinformationskampagnen in Onlinemedien, die Situation ein.

WELT: Welche Note geben Sie der TikTok-Performance der wenigen Hamburger Abgeordneten, die das chinesische Videoportal nutzen?

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Marcus Bösch: Grundsätzlich ist in Bezug auf die TikTok-Nutzung der Hamburger Politik noch Luft nach oben. Denn auf der Plattform lässt sich ganz klar mit Inhalten punkten, ein Positivbeispiel ist die Abgeordnete Olga Fritzsche von der Linkspartei. TikTok ist inzwischen deutlich mehr als tanzende Teenager oder ein Döner essender bayerischer Ministerpräsident. Im Wahlkampf wird niemand daran vorbeikommen.

WELT: Wie sieht aus Ihrer Sicht eine perfekte TikTok-Kampagne im Vorfeld der Bürgerschaftswahl 2025 aus?

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Bösch: Zumindest muss es auf jeden Fall eine geben! Bei der Landtagswahl in Bayern 2023 wurde klar, dass es nicht ratsam ist, TikTok zu ignorieren, wenn man auch die jüngeren Wähler erreichen will: Der bayerische SPD-Kandidat war nicht auf TikTok und wurde überhaupt nicht wahrgenommen. Natürlich ist das auch eine Frage der Kapazitäten und Ressourcen. Grundsätzlich müssen Politikerinnen und Politiker aber verstehen, dass politische Kommunikation bei der letzten Bürgerschaftswahl noch anders funktioniert hat als dieses Mal. Talkshowauftritte und Straßenwahlkampf sind zwar weiterhin wichtig. Aber es reicht nicht mehr, nur zu senden und in Mikrofone zu sprechen – Kommunikation muss heute dialogisch und auf Augenhöhe passieren und sehr konkret auf die Fragen der Wählerschaft zugeschnitten sein.

Der Wissenschaftler Marcus Bösch (u.a. Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg) forscht zu Themen wie der politischen Einflussnahme durch TikTok
Der Wissenschaftler Marcus Bösch (u.a. Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg) forscht zu Themen wie der politischen Einflussnahme durch TikTokQuelle: Katharina Poblotzki


WELT: Vor der Europawahl warnte unter anderem das Bundesinnenministerium vor einer „illegitimen Einflussnahme durch fremde Staaten“. Für wie wahrscheinlich halten Sie Desinformationskampagnen im Zuge der Bürgerschaftswahl?

Bösch: Wir können davon ausgehen, dass es permanent und auf allen Plattformen im Internet sehr viel Desinformation und bewusste Täuschungsabsicht gibt. Es ist schwierig, das konkret zu beziffern, weil TikTok uns Wissenschaftlern kaum Zugang gewährt. Man behauptet dort, alles zu tun, um die Integrität von Wahlen zu schützen. Aber eine solche Aussage muss man natürlich kritisch sehen. Es gibt auf TikTok sehr viele Desinformationskampagnen – auch in Bezug auf deutsche Landtagswahlen. Viele Akteure, beispielsweise von russischer Seite, sind ganz generell an der Destabilisierung westlicher Gesellschaften interessiert. Das bezieht sich auch auf einzelne Städte, Kreise und Bundesländer, denn die sind Teil vom großen Ganzen.

WELT: Ist die Gesellschaft denn ausreichend geschult im Erkennen von Fake News, Deep Fakes, Falschinformationen und Ähnlichem?

Bösch: Ein zentraler Bestandteil von Desinformation ist die Verschleierung des Absenders. Gegebenenfalls merkt man als Nutzer einer solchen Plattform also gar nicht, dass man sich gerade mitten in einer Desinformationskampagne befindet. Wir sehen in Studien, dass die deutsche Bevölkerung seit dem russischen Angriffskrieg Russland-affiner und in ihren Einstellungen sogar pro-russischer geworden ist. Die Desinformationskampagnen haben also gefruchtet. Am Fall von CSU-Politiker Alexander Dobrindt und seiner Aussage zu ukrainischen Bürgergeldempfängern kürzlich kann man sehen, wie sich solche Propaganda verstetigt und letztendlich sogar in den Mainstream – also in die Sprache von Politikern demokratischer Parteien und in etablierte Medien – hineinsickert. Meiner Ansicht nach sollte der Umgang mit Desinformation in Schulen, an Universitäten, aber auch darüber hinaus viel stärker thematisiert werden. Wir müssen über Lese- und Schreibkompetenz reden, noch bevor Kinder und Jugendliche anfangen, flächendeckend auf sozialen Plattformen unterwegs zu sein. Meine neunjährige Tochter nutzt in der Grundschule ganz selbstverständlich Google auf dem Tablet, wurde aber nie aufgeklärt, zu hinterfragen, welche Quellen da überhaupt angezeigt werden, wie man eine Information verifizieren kann oder erkennt, wer etwas mit welcher Absicht posten und ins Internet stellen könnte. Das passiert bisher viel zu wenig.

WELT: Jedoch scheint es auch auf der anderen Seite – also die der Politikerinnen und Politiker – an Medienkompetenz in Bezug auf neue Medien wie TikTok zu fehlen.

Bösch: Bei allen Wahlen, egal auf welcher Ebene, hat TikTok zuletzt eine große Rolle gespielt. Rund 21 Millionen Deutsche nutzen TikTok – im Durchschnitt zwischen einer und anderthalb Stunden am Tag. Es ist eine Plattform, die aus dem Leben vieler Menschen nicht mehr wegzudenken ist. Zwar geht es dort hauptsächlich um Unterhaltung, aber eben auch um politische Inhalte. Das kann niemand, der gewählt werden will, ignorieren.

WELT: Offenbar wird das Portal besonders von Extremisten und von Verbreitern von Desinformationen erfolgreich genutzt. Der Account afdfraktionhamburg, der regelmäßig Redebeiträge der AfD-Abgeordneten online stellt, hat mehr als 26.000 Follower. Die Hamburger Regierungsparteien gruene_hamburg und spd_hamburg haben lediglich rund 1150 bzw. 600 Follower, die.linke.hamburg und linksfraktionhamburg zusammen knapp 3000, cdu_hamburg nur 10...

Bösch: Offensichtlich haben die demokratischen Parteien noch nicht verstanden, dass Wählerkommunikation im 21. Jahrhundert ganz anders funktioniert als im 20. Jahrhundert. Früher gab es lediglich Massenmedien wie Tageszeitungen, Radio und Fernsehen, Botschaften wurden nach dem klassischen Sender-Empfänger-Prinzip übermittelt. Die Medien hatten damals als einzige Zugriff auf Agenturmeldungen und die Deutungshoheit. Das Publikum war eher passiv. Heute haben nahezu alle Menschen auf dem Planeten ein Smartphone, informieren sich nicht mehr ausschließlich über Massenmedien, manche sogar überhaupt nicht mehr. Sie informieren sich in einem Umfeld, in dem jeder – ob Individuum oder politischer Akteur mit Täuschungsabsicht – Informationen bereitstellen kann. In der Kommunikationswissenschaft sprechen wir von information disorder, also einer gewissen Informationsunordnung, oder von Informationsverschmutzung – weil uns aktuell sehr viel mehr Informationen als früher erreichen. Sie werden ungefiltert ins Netz gepustet. Für Nutzerinnen und Nutzer ist es schwer, Seriöses von Quatsch zu unterscheiden. Umso wichtiger, dass politische Akteure wie Parteien und Politikerinnen und Politiker ihre Informationen auf Plattformen wie TikTok verbreiten.

WELT: Allerdings ist die Zuspielung der Videos an den Nutzer ja von einem Algorithmus abhängig.

Bösch: Richtig. TikTok funktioniert anders als andere Soziale Medien: Während bei Facebook oder Twitter Nachrichten dadurch gefiltert wurden, wem ich als Nutzer folgte, hat TikTok das Algorithmus-basierte-System zwar nicht erfunden, aber flächendeckend populär gemacht. Wenn ich mir auf TikTok ausschließlich Videos mit lustigen Katzenvideos angucke, werde ich zukünftig noch mehr lustige Katzenvideos angezeigt bekommen – und ab und zu eines mit Hunden, damit ich mich aufrege und länger dran bleibe. Andersherum ebenso: Wenn ich alle Videos mit AfD-Content direkt wegwische, werde ich davon vermutlich weniger angezeigt bekommen, als wenn ich sie mir immer zu Ende ansehe, sie like, kommentiere und herunterlade.

WELT: Ein Teil der Verantwortung liegt also bei den Nutzern selbst. Der Meta-Konzern hat politische Inhalte zuletzt eingeschränkt, man bekommt sie etwa auf Instagram nur noch von Konten angezeigt, denen man aktiv folgt. Helfen solche Maßnahmen gegen Desinformationskampagnen?

Bösch: Das wurde aufgrund von einer ganzen Reihe schlechter Erfahrungen mit flächendeckenden Desinformationskampagnen beschlossen, politische Inhalte sollen nicht mehr befördert werden, sondern es soll sich auf Entertainment fokussiert werden. Ob das funktioniert, sei mal dahingestellt. TikTok verbietet zwar politische Werbung, erlaubt aber das Posten politischer Inhalte. Ich halte es für sinnvoll, dass Politikerinnen und Politiker dort mit eigenen Accounts vertreten sind.

WELT: Was halten Sie von einem TikTok-Verbot, wie es schon gefordert wurde?

Bösch: Damit macht man es sich zu einfach. In anderen Ländern wie Indien sehen wir, dass solche Maßnahmen nichts bringen, Desinformationen werden dort einfach auf anderen Plattformen weiter verbreitet. Man müsste dann auch andere chinesische Apps wie Temu oder CapCut verbieten – und könnte die Debatte auf viele weitere Apps ausweiten. Was also tun? Eine Antwort kann sein: Die Plattform selbst muss sich kümmern. Ich denke, diese Forderung wird zu Recht gestellt. Doch mittlerweile ist die Fülle an Informationen einfach zu groß und im konkreten Einzelfall ist es nicht so einfach, denn es gilt ja zu Recht und zum Glück die freie Meinungsäußerung. Das Problem ist also sehr komplex. Eine andere Antwort kann sein, dass sich die Politik kümmern muss. Auf europäischer Ebene gibt es mit dem Digital Service Act ein erstes gesetzliches Regelwerk – das sich allerdings noch am Anfang befindet. Letztendlich liegt die Verantwortung auch bei den Nutzerinnen und Nutzern.

Marcus Bösch hat Politikwissenschaften, Mittlere und Neuere Geschichte und Medieninformatik (M.A.) studiert, bei der Deutschen Welle volontiert und einen M.A. in Game Development and Research absolviert. Er veröffentlicht den wöchentlichen Newsletter „Understanding TikTok“ und ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW) in einem Projekt zu hybriden Desinformationskampagnen in Online-Medien.