Falls noch irgendjemand der Meinung war, Europawahlen könne man sich schenken, weil das Europäische Parlament eh nicht viel zu melden habe, dann wurde er am Sonntagabend eines Besseren belehrt. Die Wahllokale in Frankreich waren kaum eine Stunde geschlossen, da trat der französische Präsident Emmanuel Macron vor die Kameras, um die Nationalversammlung aufzulösen und Neuwahlen für den 30. Juni und 7. Juli anzusetzen.
Macron reagierte damit auf die massiven Stimmenverluste seines Regierungsbündnisses und den spektakulären Wahlsieg des „Rassemblement National“. Die rechtsextreme Partei Marine Le Pens holte mit ihrem jungdynamischen Spitzenkandidaten Jordan Bardella 31,5 Prozent der Stimmen, ein Rekordergebnis – und mehr als doppelt so viele Stimmen wie Macrons Bündnis mit dem Namen „Besoin d’europe“, das auf klägliche 15 Prozent kam. „Besoin d’Europe“ heißt übersetzt soviel wie „Wir haben Europa nötig“.
Die französischen Wähler sind aber offenkundig der Meinung, dass sie Europa nicht mehr nötig haben. Noch rechts vom Rassemblement National steht die „Reconquête“ von Éric Zemmour und Marine Le Pens Nichte Marion Maréchal-Le Pen, die weitere fünf Prozent der Stimmen gewinnen konnte. Damit, so begründete Macron seine Entscheidung Neuwahlen auszurufen, hätten fast 40 Prozent der Wähler extrem rechts gewählt. Er könne nicht so tun, als ob nichts geschehen sei. Der Aufstieg der Demagogen und Nationalisten sei eine Gefahr für „unser Land, aber auch für Europa.“
Rechnet man die neun Prozent, die das linksextrem europakritische und vulgär israelfeindliche „Unbeugsame Frankreich“ erzielen konnte, noch dazu, dann haben fast die Hälfte der Franzosen Parteien gewählt, die das Europa, das wir kennen, eigentlich abschaffen wollen.
Ob Macrons Hazardspiel, über Neuwahlen noch einmal so etwas wie einen republikanischen Block gegen Rechts zu mobilisieren, aufgeht, ist mehr als zweifelhaft. Nach sieben Jahren im Amt löst der einstige Hoffnungsträger bei den Franzosen keine Begeisterung mehr aus. Alle Umfragen deuten darauf hin, dass er nach der Wahl gezwungen sein könnte, dem Rassemblement National als dann stärkster Partei das Amt des Premierministers anbieten zu müssen. Diese Nobilitierung könnte Marine Le Pen 2027 endgültig den Weg in den Élysée-Palast bahnen.
Nach dem Brexit wäre eine anti-europäische, anti-deutsche, putinfreundliche Präsidentin Le Pen vermutlich ein Schlag, von dem sich die Europäische Union nicht mehr erholen würde. Seit Sonntagabend ist dieses Untergangsszenario etwas wahrscheinlicher geworden. Aber man muss gar nicht erst nach Frankreich schauen, um das Gruseln zu lernen.
Protestwähler in Deutschland
Rechtspopulistische und anti-europäische Parteien haben fast überall auf dem Kontinent zugelegt, in Österreich wurde die FPÖ stärkste Partei. Und wenn die CDU, die trotz der günstigen Voraussetzungen aufgrund der dürftigen Performance der Ampel-Regierung, gerade einmal einen niedlichen Prozentpunkt zugelegt hat, sich hierzulande allen Ernstes als Wahlsieger präsentiert, dann lebt sie im Phantasialand.
Die AfD hat trotz oder wegen der absurden Possen um ihre Spitzenkandidaten mindestens drei Prozentpunkte hinzugewonnen, liegt mit 14,2 Prozent hinter der SPD (14,6), aber klar vor den abgestürzten Grünen (12,8) und ist im Osten Deutschlands stärkste Partei. Die AfD könnte momentan wahrscheinlich auch ein Skelett in Wehrmachtsuniform als Spitzenkandidat aufstellen und würde immer noch zulegen.
Dass sich der objektiv desaströse Wahlkampf der Partei offenkundig kaum negativ auf das Ergebnis ausgewirkt hat, ist ein weiteres Indiz dafür, dass sich Wähler, die ohnehin entschlossen sind, auf Systemopposition zu machen, sich von Paria-Kandidaten davon nicht abschrecken lassen. Neben der AfD kam Wagenknechts Putinistenklub „BSW“ aus dem Stand auf 5,3 Prozent.
Das Potenzial an Wählern, die rationalen Argumenten kaum noch zugänglich sind, wächst auch in Deutschland von Wahl zu Wahl an. Von französischen Verhältnissen sind wir hier deshalb gar nicht einmal so weit entfernt. Spätestens nach den anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im Herbst, wird man wieder rituell mahnende, ratlose Stimmen hören, die zur Verteidigung der Demokratie aufrufen.
Das – die Rettung der Demokratie sowie Europas – ist grundsätzlich eine prima Idee, man sollte sich nur noch einmal gründlich überlegen, wie man es richtig macht. Was Europa betrifft, wäre es wahrscheinlich hilfreich, wenn die Wahl der Kommissionspräsidentin oder des Präsidenten nicht wieder als Folge einer Riesenmauschelei im Europäischen Rat über die Bühne gehen würde wie beim letzten Mal, als Emmanuel Macron zur Überraschung aller Beteiligten auf einmal Ursula von der Leyen aus dem Zylinder zauberte.
Die amtierende Kommissionspräsidentin steht nun vor einem Dilemma. Sie muss angesichts der Mehrheitsverhältnisse nun Sozialdemokraten, Grüne und Liberale überzeugen, sie zu wählen, ohne konservative Stimmen zu verlieren. Oder sie muss sich mit Hilfe Giorgia Melonis Fratelli d’Italia wählen lassen und dabei so tun, als seien die Postfaschisten eine stinknormale konservative Partei. Und zunächst einmal braucht sie eine Bundesregierung, die sie überhaupt vorschlägt. Ursula von der Leyen wird sich also als ideologisch extrem flexibel erweisen müssen, um im Amt zu bleiben. Ihre Glaubwürdigkeit erhöht das eher nicht.
Doch wahltaktische und personelle Fragen werden letztlich nicht entscheidend sein, um dem kontinentweiten anti-europäischen Drall nach rechts außen etwas entgegen zu setzen. In fast allen Wahlumfragen sind es die gleichen Themen, die die Bürger Europas umtreiben und sie dazu bringen, so zu wählen, wie sie wählen:
Es ist die Angst vor den Folgen einer zu massiven Zuwanderung vor allem aus islamischen Ländern, es ist die Angst vor wirtschaftlichem Niedergang und ansteigender Kriminalität, es ist der Wunsch nach national-protektionistischen Antworten auf globale Herausforderungen – und es ist das fehlende Verständnis für die Tatsache, dass in der Ukraine gegen Putins Regime auch die Freiheit Europas verteidigt werden muss.
Eine Politik, die rechtsnationale Tendenzen in Europa ernsthaft bekämpfen will, kann sich nicht in Sonntagsreden ergehen, sie muss endlich Antworten auf diese Ängste und Fragen finden. Sie muss bestimmte Dinge regeln und bei anderen zumindest plausibel erklären, warum sie sie nicht regeln kann.
In einer Zeit, wo Europa von außen und von innen herausgefordert wird, wie lange nicht mehr, bräuchte es mindestens einen großen Europäer, der den Weg weist Europa zukunftsfest zu machen. Jemand vom Schlage Valéry Giscard d‘Estaings, Helmut Schmidts, Jacques Delors, François Mitterrands, Helmut Kohls oder selbst Margaret Thatchers.
In einem Moment, wo der britische Premier längst weg vom Fenster ist und der französische Präsident auszufallen droht, wäre das ein Auftrag für den deutschen Bundeskanzler. Schade, dass der Bundeskanzler das noch nicht gemerkt hat.