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Meinung EM-Sensation Slowenien

Eine Ski-Nation spielt plötzlich Fußball

Autor, Regisseur und Fußballfan: Goran Vojnović Autor, Regisseur und Fußballfan: Goran Vojnović
Autor, Regisseur und Fußballfan: Goran Vojnović
Quelle: © Mankica Kranjec, Beletrina
Es ist nicht das erste große Turnier der Slowenen, aber das erste Mal, dass aus den Träumen Wirklichkeit wird. Mit dem Erreichen des Achtelfinales ist das Land endlich in der europäischen Normalität angekommen, sagt der slowenische Schriftsteller-Star Goran Vojnović.
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„Heute Nacht sind Träume erlaubt, morgen ist ein neuer Tag“, sagte am 26. Juni 1991 der erste slowenische Präsident Milan Kučan anlässlich der Erklärung der slowenischen Unabhängigkeit, aber ich habe das Gefühl, dass die Slowenen ihn nicht richtig verstanden haben. Denn wann immer ihnen seit diesem schicksalhaften Jahr etwas Schönes widerfuhr, glaubten sie zu träumen, während die Realität in der Sicht der Slowenen stets bitter blieb.

Ein Slowene wird Ihnen daher gern erklären, dass wir in den letzten dreißig Jahren als Staat die historische Chance versäumt haben, eine zweite Schweiz zu werden, und uns sogar die Tschechen, die Polen und die Ungarn überholt haben. Natürlich sind wir in dieser Zeit Teil der Europäischen Union geworden und haben eine beneidenswert hohe Lebensqualität, aber all das fällt unter die Träume, die wir nicht für unsere eigentliche Realität halten.

Der Blick der anderen

Als sich 1999 unsere Fußballnationalmannschaft für die Europameisterschaft qualifizierte, schrieben daher alle von einem Fußballmärchen. Damals sahen wir uns nämlich immer noch so, wie uns einst die anderen jugoslawischen Völker gesehen hatten, und glaubten, wir seien „Skiläufer“. In Jugoslawien war Fußball die Domäne der Kroaten, Bosnier und Serben, während wir uns wie die Österreicher oder Schweizer mit behelmtem Kopf talwärts stürzten.

Und deshalb glaubten wir zu träumen, als Milenko Ačimović im ersten Playoff-Spiel der Euro 2000 ein Tor von der Mittellinie aus erzielte und Slowenien die Ukraine besiegte. Denn so etwas ist nur im Traum möglich, so wie es nur im Traum möglich war, dass die „Skiläufer“ im zweiten Spiel dieser Europameisterschaft gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, also gegen Stojković, Mijatović, Mihajlović und andere große Stars des Jugo-Fußballs, mit drei zu null führten.

Aber dann folgte ein schmerzhaftes Erwachen aus dem Traum. Die Bundesrepublik Jugoslawien erzielte, mit einem Spieler weniger, drei Tore in zehn Minuten, das Spiel endete 3:3, und wir waren ausgeschieden. Und als wir uns zwei Jahre später zum ersten Mal für die Weltmeisterschaft qualifizierten, war alles so unerträglich realistisch, denn unser bester Spieler Zlatko Zahović hatte sich unmittelbar vor der Meisterschaft mit dem Nationaltrainer Srečko Katanec zerstritten. Statt eines Märchens wurden wir Zeuge eines Doku-Dramas über unglückliche Slowenen.

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Erst acht Jahre später glaubten wir wieder zu träumen, als wir bei der Weltmeisterschaft in Südafrika im ersten Spiel Algerien besiegten und im zweiten Spiel gegen die USA zur Halbzeit mit zwei zu null führten. Doch als die Amerikaner in der zweiten Halbzeit ausglichen, wussten wir, dass wir wieder ausscheiden würden, weil wir gegen England verlieren und die Amerikaner in der 92. Minute gegen Algerien das Siegtor schießen. Denn im realen Leben ist es nun einmal so, dass die kleinen Slowenen nicht die großen Amerikaner ausschalten.

Ja, wieder war diese verdammte Realität am Werk, in der wir Slowenen Ski fahren und deshalb froh sein müssen, wenn unsere Fußballer San Marino besiegen.

Der Fußball glich viel zu sehr der Realität, um uns nicht zu verärgern. Vor allem, weil wir neidisch mit ansehen mussten, wie unsere Nachbarn, die Kroaten, die Medaillen gewinnen, so neidisch wie wir die Hollywoodstars sahen, die auf ihren Inseln Urlaub machen. Die einst auch unsere waren.

Ja, das war diese schreckliche Realität, in der wir Slowenen vielleicht Europameister im Basketball werden, vielleicht Berge erklettern und auf Skiern springen, vielleicht den Giro und die Tour gewinnen, aber im Fußball immer wieder verlieren, weil man im Fußball die Realität nicht austricksen kann. Wie im realen Leben, so glaubten wir jedenfalls, sind auch im Fußball Träume nicht erlaubt.

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Deshalb glaubten wir bis zuletzt auch nicht, dass sich unsere Nationalmannschaft für die diesjährige EURO qualifizieren könnte. Als ich dieses Team zum ersten Mal bei einem Freundschaftsspiel gegen Norwegen sah, war ich eigentlich mit meinem Sohn hingegangen, damit er Erling Haaland sieht, vor allem aber sah ich eine sympathische slowenische Mannschaft. Ich kannte kaum drei oder vier unserer Spieler, aber mein Sohn und ich verliebten uns sofort in diese unbekannten Helden und sahen uns live auch noch die Qualifikationsspiele gegen Dänemark, San Marino, Nordirland und Finnland an.

Und mit jedem Spiel waren wir begeisterter und glaubten immer mehr an „unsere Jungs“. Unser kleines großes Nationalstadion allerdings wollte und wollte sich nicht füllen. Die gut 16.000 Sitzplätze waren erst beim letzten Qualifikationsspiel gegen Kasachstan ausverkauft, als die Qualifikation unserer Mannschaft für die Euro eine Sache sehr einfacher Mathematik geworden war.

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Und damals glaubte vielleicht wieder mancher zu träumen und ein neues Fußballmärchen zu sehen, aber in Wirklichkeit war an unserer Qualifikation nichts Märchenhaftes. Das Team von Matjaž Kek, mit einem Weltstar, dem Torhüter Jan Oblak, und einem Wunderknaben, Benjamin Šeško, spielte in der Qualifikation nämlich einen hervorragenden Fußball. Wir brauchten kein Tor aus der Spielfeldmitte, da wir einfach besser waren als unsere Gegner. Die Spieler, von denen die meisten Slowenen noch nie gehört hatten, spielten diszipliniert, klug und einfallsreich.

Traum und Wirklichkeit

Und deshalb schien die Tatsache, dass Slowenien im zweiten Spiel der Europameisterschaft gegen Serbien mit eins zu null führte und es so aussah, dass es sich schon nach zwei Spielen für das Achtelfinale qualifizieren würde, äußerst realistisch. Realistisch schien, dass die serbischen Fans enttäuscht das Stadion verließen und die serbischen Stars mit hängenden Köpfen auf den Schlusspfiff des Schiedsrichters und auf die Erlösung warteten. Wer ist jetzt der Skiläufer?

Wenn jemand, dann waren es die Serben, die zu träumen glaubten, als in der 95. Minute der allein gelassene Luka Jović die Serben unerwartet am Leben hielt, während wir zusammen mit Jan Oblak lediglich mit den Schultern zuckten und sagten: „Kopf hoch. In fünf Tagen ist das Spiel gegen die Engländer.“

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Denn wir wussten genau, dass wir nicht träumen und wir uns im Fußball jetzt auch mit den Engländern messen können. Wir wussten, dass es geschehen kann, dass Kane, Foden, Saka, Bellingham und Palmer in den neunzig Minuten nur dreimal auf Oblaks Tor schießen und wir den nötigen Punkt holen. Wir wussten, dass endlich auch im realen Leben alles möglich ist. Auch, dass wir am Montag in Frankfurt noch einmal die Portugiesen schlagen, wie wir es schon in der Vorbereitung auf die Europameisterschaft getan haben.

„Heute Nacht sind Träume erlaubt“, hallt von irgendwo noch immer die Stimme Milan Kučans nach, aber wir slowenischen Fans träumen nicht, sondern erleben einen neuen Tag; einen Tag, an dem die Skiläufer Fußball spielen und die Kroaten, Bosnier und Serben uns im Fernsehen zusehen; einen Tag, an dem ein Spieler, der fünftausend Euro im Monat verdient, besser sein kann als die Fußballmillionäre; einen Tag, an dem der Ball rund ist und in jede Richtung rollen kann.

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Wir Slowenen erleben heute einen Tag, an dem wir auch im Fußball jeden besiegen können.

Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof.

Goran Vojnović, geboren 1980, ist Schriftsteller und Regisseur. Seine Mutter ist istrische Kroatin, sein Vater Bosnier, die in den 70er-Jahren nach Ljubljana zogen. Vojnovićs Debütroman „Tschefuren raus!“ über das Aufwachsen im Einwandererviertel Fužine löste 2008 in seiner Heimat einen Skandal aus. Für die deutsche Übersetzung der Fortsetzung „18 Kilometer bis Ljubljana“ (Folio Verlag) war Klaus Detlef Olof für den diesjährigen Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse nominiert.

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