Es ist gar nicht leicht, Geschichten aus der Perspektive eines Kindes zu schreiben, auch wenn man selbst einmal dieses Kind war. Wahrhaftigkeit lässt sich verlässlich an der Darstellung kindlicher Wut und Aggression ablesen. In schlechten Erzählungen sind Kinder Opfer, unschuldig, nachsichtig, rein und sanft, denen trotz oder gerade wegen ihrer Güte Übles von Erwachsenen oder anderen Kindern widerfährt.
Hilary Mantels Kinder sind nicht gut. In der Story „King Billy ist ein Gentleman“ wirft die Nachbarin Myra der Mutter über den Gartenzaun hinweg das Lotterleben mit zwei Männern vor, und der achtjährige Erzähler wird zur Furie: „Ich fixierte sie mit meinem durchdringendsten Blick, in meinem Mund explodierten gewalttätige Worte und wirbelten blutig wie ausgeschlagene Zähne in ihm herum.“
Was das Kind nicht sagen kann, vollendet die Kurzgeschichte Jahrzehnte später mit aller Boshaftigkeit: „Myra war klein, ein rattengesichtiges, erbärmliches Nichts, nicht mehr als ein namenloses Stück Fleisch im Fenster eines Metzgers in einem Abrissgebiet.“
Sprache und Ohnmacht
Wenn die Sprache die Ohnmacht kompensieren muss, wird sie zum Fluchspruch. In einer anderen Geschichte gerät ein schon jugendliches Mädchen in einen Streit mit ihrem Stiefvater: „Es stimmt nicht, dass große Wut einem Kraft gibt. Wenn man sehr wütend ist, schwimmt einem der Kopf, die Gelenke an Armen und Beinen scheinen schwach, aber man tut es trotzdem, etwas, das man nie zuvor getan hat. Man spricht ihn aus, den Fluch, drückt sein Gegenüber gegen die Wand, macht einer Todesformel Luft und meint, was man sagt.“
„Sprechen lernen“, der Titel des erstmals auf Deutsch vorliegenden Erzählungsbands der 2022 verstorbenen Schriftstellerin, bezieht sich auf einen sozialen Aufstieg, auf die Herkunft Mantels aus dem nordenglischen Arbeitermilieu (verschärft durch den katholischen Familienhintergrund, der das Kind zusätzlich zur Zielscheibe machte).
Doch zur Emanzipation eines hochbegabten Mädchens gehört auch die Initiation in eine schwarzmagische Kunst: der Bannung durch Worte. Die Prüfung in „richtigem“ Sprechen, die das mit stigmatisierendem Akzent aufgewachsene Provinzkind ablegen muss, wird zur Urszene der Schriftstellerin: „Es war doch sicher nicht nötig, sich sein Leben mit Sprechen zu verdienen? Wäre es nicht möglich, den Mund geschlossen zu halten und vielleicht etwas aufzuschreiben, vielleicht etwas zu schreiben, was Miss Webster ‚bucks‘– Bücher – nennen würde?“
Die sieben Geschichten des im Original 2003 erschienenen Bandes ergänzen, obgleich Fiktion, die gefeierte Autobiografie „Von Geist und Geistern“. Das Milieu und die Konstellationen sind Mantel-Lesern vertraut: die ewig verregnete, rußgeschwärzte Kleinstadt, die konfessionellen Gegensätze, die konfliktreichen Familienverhältnisse, als die Mutter ihren Liebhaber offen ins Haus holt und die Kinder den leiblichen Vater aufs Abstellgleis geschoben sehen.
In „Eingeschläfert“, einer der besten Storys, überträgt Mantel diese dramatische Vaterkonkurrenz auf zwei Hunde der Familie. Ein komplexes Kammerspiel, das um Loyalitäten und enttäuschte Erwartungen kreist, um Namensgebung und „Daddy“-Sagen, um Treue und Verrat.
Im später hinzugefügten Vorwort nennt Mantel dieses Erzählen „autoskopisch“: „Aus einer entfernten, erhöhten Perspektive blickt mein schreibendes Ich auf einen auf seine bloße Hülle reduzierten Körper, der darauf wartet, mit Sätzen gefüllt zu werden. Seine Umrisse nähern sich meinen an, aber es gibt einen verhandelbaren Halbschatten.“
So markiert Mantel ihre eigene Schreibposition in den aktuellen Debatten um Autofiktion. „Die Geschichte meiner Kindheit ist ein komplizierter Satz, den ich ständig zu beenden versuche – zu beenden und hinter mir zu lassen.“ Doch wird die Erzählerin von den „Geistern meiner eigenen Sinneseindrücke verfolgt“, die „zwischen den Zeilen“ erbeben. Der Kern ihres Lebens ist ein diffuser Schrecken, dessen Unaussprechlichkeit verhindert, die Kindheitsgeschichte jemals ganz abzuschließen.
Mantel, die mit ihren historischen Tudor-Romanen Weltruhm erlangte (auch ihr Thomas Cromwell war im Grunde eine Aufsteigerstory), wendet den Blick der faktentreuen Erzählerin auf die Familiengeschichte an. In „Ein reiner Tisch“ versucht die Erzählerin vergebens, ihre in egozentrische Legenden verstrickte Mutter zu stellen. Deren Vorfahren stammen aus einem Dorf, das in den 1940er-Jahren einem Staudammbau zum Opfer fiel.
Auch das ein ironischer Kommentar zur Sehnsucht nach historischer Genauigkeit im Autobiografischen, denn das ganze Setting ist ja selbst fiktiv, wenngleich Mantel betont, die Staudammgeschichte sei wahr: „Die in meiner Kindheit kursierenden Geschichten über das versunkene Dorf waren meine Einführung in das sumpfige Gebiet zwischen Geschichte und Mythos. Seitdem trete ich dort auf der Stelle.“ Diese Stelle aber ist der heilige Ort der Literatur.
Hilary Mantel: „Sprechen lernen“. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Dumont, 160 Seiten, 22 Euro.