WELTGo!
Ihr KI-Assistent für alle Fragen
Ihr KI-Assistent für alle Fragen und Lebenslagen
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Kultur
  3. Literatur
  4. André Kubiczek: „Bei der NVA hatte ich das beste Jahr meines Lebens“

Literatur André Kubiczek

„Bei der NVA hatte ich das beste Jahr meines Lebens“

Literarischer Korrespondent
Auf der Suche nach der Kindheit: André Kubiczek unterwegs im Prenzlauer Berg. Auf der Suche nach der Kindheit: André Kubiczek unterwegs im Prenzlauer Berg.
Kindheitsmuster: André Kubiczek, geboren 1969
Quelle: Marlene Gawrisch/WELT
Auch die DDR hatte Migrationshintergrund. André Kubiczek setzt in „Nostalgia“ seiner aus Laos stammenden Mutter ein Denkmal und erzählt von seiner Kindheit in den 70ern. Beim Spaziergang durch den Mauerpark verrät er, warum er dieses Buch unbedingt schreiben musste und es erst heute kann.
Hier können Sie unsere WELT-Podcasts hören
Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.

Auf dem Cover von André Kubiczeks neuem Roman gibt es ein wunderbares Schwarz-Weiß-Foto. Der Autor, vielleicht vier, fünf Jahre alt, steht neben seiner Mutter auf einer Landstraße, im Hintergrund Telegrafenmasten, in unscharfer Ferne ein Dorf mit Kirchturm. Die Mutter, die einen Arm um das leicht genervt in die Kamera blinzelnde Kind legt, ist nicht nur wegen ihrer feinen asiatischen Gesichtszüge eine höchst auffällige Erscheinung: in helle Töne gekleidet, weiße Schlaghose, wild gemusterte Bluse, sportlicher Blouson, Sonnenbrille, der schwarze Haarschopf vom Wind zerzaust.

Khemkham Kubiczek, geborene Pholsena, starb 1986 an einer Krebserkrankung. Da war sie erst 40 Jahre alt. Der Roman, der den Titel „Nostalgia“ trägt, ist ihr und André Kubiczeks jüngerem Bruder Alain gewidmet, der ebenfalls jung starb. Die Mutter stammte aus Laos, aus einer einflussreichen Familie des dann später, seit 1975, sozialistischen Landes. Seine Eltern hatten sich Ende der 60er-Jahre beim Studium in Moskau kennengelernt.

Diskriminierung unter sozialistischen Vorzeichen

„Ein kleines Denkmal“ habe er Mutter und Bruder setzen wollen, sagt er. Es ist zugleich ein historischer Roman über die späte DDR geworden, ein gerade in aktuellen Debattenlagen wichtiges Buch über einen Staat, dessen Erbe uns nicht loslässt. Und es ist auch ein Buch über Migration, über Fremdsein und Diskriminierung unter sozialistischen Vorzeichen.

Wir treffen uns in Berlin-Prenzlauer Berg an einem Fußgängersteg, der im Dänischen Viertel über den S-Bahn-Ring führt, wir nehmen einen der üblichen Wege, die er nach der allmorgendlichen Schreibarbeit in seinem Kiez geht: über das Gleisdreieck nahe dem Gesundbrunnen zum Mauerpark und von dort Richtung Oderberger Straße. Es geht vorbei an asiatischen Restaurants, die „Eastmoon“ oder „Seoul Garden“ heißen.

Lesen Sie auch

Im Roman erzählt Kubiczek von seiner Schulzeit in der DDR. Davon, dass Kinder ihm „Schlitzauge“ oder „Chinese“ hinterherrufen, was er damals schon allein deswegen nicht versteht, weil er doch – wegen des Großvaters der Mutter – „maximal ein Sechzehntelchinese“ sein kann. Davon, dass er intensiv über Hautfarben und Augenformen nachdenkt, und dass er beschließt, später eine Frau mit hellblonden Haaren und blauen Augen zu heiraten, um seine Kinder zu „tarnen“. Da ist zum Glück noch ein Junge mit afrikanischen Eltern, in dessen Nähe er weniger auffällt. Und im Ferienlager gibt es noch Mario: „Es ist gut, wenn mehrere Mischlinge zusammen sind. Dann können sie zur Not ihre eigene Bande gründen.“

Dass sein Buch wie ein Paradebeispiel des globalen Trends postmigrantischer Literatur wirkt, nimmt Kubiczek eher verwundert zur Kenntnis. Als seine Lektorin das Buch als „DDR aus Migrationsperspektive“ labeln wollte, habe er sich gewehrt. Er empfindet sich nicht als Teil irgendeiner identitätspolitischen Community, die man dann asiatisch-deutsch nennen könnte oder einer literarischen Strömung. Keine Autoren-Bande also, andererseits: „Wenn ich da einsortiert werde, habe ich aber kein Problem damit.“

Lesen Sie auch

Einmal, 2007, ist er nach Laos gereist. „Emotional schwierig“ sei die Begegnung mit dem fernen Teil der Familie gewesen. Laotisch sprach er nie, verständigt habe man sich auf Russisch und Englisch. Seine Tante, so erzählt er, sei einst mit dem heutigen chinesischen Ministerpräsidenten Xi Jinping in eine Klasse gegangen – als die früher daheim verfolgte Familie im Pekinger Exil lebte. Ein Onkel hat in Leipzig studiert, auch er kommt im Roman vor, als eine in der Fremde ziemlich verlorene Seele.

Von einem Gefühl der Zugehörigkeit aber könne keine Rede sein: „In Laos habe ich gemerkt, dass es auch gar nicht ginge, selbst wenn ich gewollt hätte. Ich wollte auch als Kind nie ein Laote sein, sondern ein Deutscher, der nicht auffällt. Das ging natürlich nicht, wenn man nicht so richtig deutsch aussieht. Damit habe ich am meisten gehadert.“

Die Mutter ist eine starke, ehrgeizige Frau, die auch in der DDR aufsteigen will, jahrelang nebenbei an ihrer Dissertation arbeitet. Ihren Ehrgeiz überträgt sie auch auf ihren Sohn. Den Schulalltag mit seinen Appellen, dem absurden Postenwesen – Agitator! Wandzeitungsredakteur! – schildert Kubiczek mit seinem typischen ironischen Ton, der gleichwohl nie ins Karikaturhafte oder Klamaukige abgleitet. Bei den Schulgeschichten sei nichts erfunden, betont er, auch nicht die ideologisch 100-prozentige Lehrerin, die die Klassenkameradin dazu nötigt, das Wappen der USA mit der Schere aus der stolz vorgezeigten Westjeans zu schneiden.

Lesen Sie auch
Anzeige

Seine Tochter, die 20 ist und Jura studiert, habe das Buch gerade gelesen und sei „ganz schön mitgenommen“ gewesen. „Sie war erschüttert, was ich für eine schreckliche Kindheit hatte.“ Zugleich habe sie auch begonnen, einzelne Fakten nachzuschlagen, etwa dass der Vater ihrer Großmutter in Laos tatsächlich bei einem politischen Attentat ums Leben kam. Seit die Tochter, die im Wechselmodell beim ihm wohnte, aus dem Haus sei, habe er plötzlich viel Zeit totzuschlagen. Er lebt „aus Überzeugung“ als Single; es sei besser, „wenn man sich nicht verabreden oder Konversation betreiben muss, wenn man nicht will“.

Dabei wirkt Kubiczek im Gespräch, über frühe Lieblingsautoren (Wilde, Baudelaire, Camus) oder Fußball (SV Babelsberg), gar nicht so eigenbrötlerisch. Man weiß nicht ganz, ob man ihm die Attitüde des einsamen Schriftstellers abnehmen soll. Den Erscheinungstermin des Buches habe er absichtlich in den Mai gelegt, „damit ich auf keine Buchmesse muss“.

„Je monotoner, desto besser“

Sein Tagesablauf ist streng ritualisiert: „Je monotoner, desto besser.“ Er steht früh auf – dieser Roman sei ein reines „Morgen-Buch“ gewesen. Drei Seiten täglich reichten. „Dann lasse ich sofort den Stift fallen.“ Und er geht spazieren; auf diesen langen Wegen hat er sich auch ein Jahr lang einen präzisen Plan für den Roman zurechtgelegt. Etwa die kluge Dramaturgie, die vom Tod der Mutter wieder rückwärts verfährt und mit ihrer Ankunft in der DDR in den 60ern endet, mit einem Aufbruch also. „Wenn alles auf den Tod hinausgelaufen wäre, wäre es super deprimierend gewesen, auch für den Leser.“

Doch bleibt ihr Sterben das emotionale Gravitationszentrum des Buches. Der körperliche Verfall dieser in vielerlei Hinsicht bemerkenswerten Frau und ihr langer, schließlich vergeblicher Kampf gegen die Krankheit haben dem Autor sehr viel abverlangt. „Ich habe mich lange vor diesen Krankheitskapiteln gedrückt, ich hatte wahnsinnig viel Text aufgehäuft, um da nicht hinkommen zu müssen.“

Schon in seinem Roman „Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn“ von 2012 hatte Kubiczek seine Familiengeschichte zum Thema gemacht. Doch damals sei es zu früh gewesen, ihm hätten „die handwerklichen Mittel“ und die „emotionale Reife“ für den Stoff gefehlt. Der Schwerpunkt lag auf dem Bruder, der nach einem Unfall und einem ärztlichen Kunstfehler geistig behindert war und nur ein Jahr nach der Mutter starb. Damals sei ihm alles noch so nahe gegangen, dass er darüber nicht in authentischer Weise schreiben konnte. „Da hatte man den Eindruck, als wäre das eine glückliche Kindheit gewesen, dabei war es genau das Gegenteil.“

Dass „Nostalgia“ nun mitten in eine neue erinnerungspolitische Debatte um die DDR fällt, registriert er wohl, hat die entsprechenden Debatten-Werke – Romane wie die von Anne Rabe oder Charlotte Gneuß, Sachbücher von Dirk Oschmann oder Katja Hoyer – aber bewusst nicht gelesen, um nicht abgelenkt zu werden. Seine eigenen Bücher erzählen höchst differenziert vom DDR-Alltag, ohne ihn nachträglich zu verklären.

Wir sitzen inzwischen im Prater Biergarten in der Kastanienallee, und Kubiczek erzählt, wie er 1987 zur NVA ging, für drei Jahre, weil das die Voraussetzung für einen Studienplatz in Germanistik war. Bei der Armee habe er schon früh die politischen Erschütterungen spüren können, die „Unruhe im Land“. „1989 war super“, erzählt er, „bei der NVA hatte ich das beste Jahr meines Lebens“. Die jüngeren Offiziere seien ohnehin alle „pro Perestroika“ gewesen „Als dann im Oktober der 40. Jahrestag der DDR kam, gab es natürlich Gefechtsbereitschaft. Wir saßen alle mit Knüppeln in den Kasernen und haben auf einen Befehl gewartet.“

Anzeige

Dann erreichte die Wende auch die Armee. Kubiczek erzählt von Soldatenräten und von kleinen internen Reformen, in denen sich der Geist der Revolution niederschlug, etwa, dass man nun in Zivil in den Ausgang gehen durfte. „Es war eine total großartige Zeit, zumal man vorher gedacht hatte, die DDR würde ewig währen.“

Lesen Sie auch

Bei der NVA war es auch, wo er in den Garnisonsbuchhandlungen jene Werke fand, die im regulären Buchhandel immer vergriffen waren, wie Christa Wolf oder Christoph Hein. Inzwischen hat er sich aus Büchern, die auf der Straße entsorgt wurden, eine große DDR-Bibliothek zusammengestellt, eine ostdeutsche Klassikersammlung aus Restposten, mit klarer Vorliebe: „Brigitte Reimann ist die beste Schriftstellerin der DDR.“

Heute ist André Kubiczek selbst einer der wichtigsten Autoren, die in einem Land geboren wurden, das es lange nicht mehr gibt und das doch einfach nicht verschwinden will. Für ihn ist „Nostalgia“ auch ein Abschluss, ein entscheidender Schritt, um auch irgendwann einmal das autobiografische Terrain verlassen zu können. „All das loszuwerden, war für mich eine große Erleichterung“, sagt er nun. Im Prozess des Schreibens hat er die Biografie geordnet, das Durchlebte durchdacht. Diese deutschen Debatten, um Ost und West, um „Unrechtsstaat“ versus „Lebensleistung“, die waren nicht der Antrieb für sein Buch. Aber er musste seiner Tochter erklären, „woher sie kommt“, und auch, „warum ihr Vater manchmal komisch war“.

Zur Biografie: Seine Eltern hatten sich Ende der 60er-Jahre beim Studium in Moskau kennengelernt – der Vater war in der DDR Staatswissenschafler, die Mutter stammte aus Laos. André Kubiczek, 1969 geboren, wuchs in Potsdam auf und lebt nach Stationen in Halle, Leipzig und Bonn seit 1994 in Berlin. 2002 erschien sein vielbeachtetes Romandebüt „Junge Talente“.

Nach Romanen wie „Oben leuchten die Sterne“ und „Die Guten und die Bösen“ wurde er 2007 mit dem Candide-Preis ausgezeichnet. „Skizze eines Sommers“ schaffte es 2016 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises. In diesem Jahr erschien sein neuer autobiografischer Roman „Nostalgia“ bei Rowohlt Berlin (400 Seiten, 25 Euro).

An dieser Stelle finden Sie Inhalte von Drittanbietern
Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema