Im Pool treibt eine pinkfarbene Luftmatratze. Vater und Sohn spielen Baseball im Garten. Auf der Terrasse vor der Villa sonnen sich Mutter und Tochter. Trautes Familienidyll. Doch dann der Anruf, der alles verändert: Der Chicagoer Staatsanwalt Rusty Sabich (Jake Gyllenhaal) erfährt, dass seine Kollegin Carolyn Polhemus (Renate Reinsve) ermordet aufgefunden wurde. Es gäbe genug Leute mit Rachemotiven. Auf der Anklagebank landet dennoch ziemlich schnell einer: Rusty selbst. Denn er hatte, so stellt sich heraus, eine Affäre mit der Ermordeten.
Ein Indiz nach dem anderen kommt ans Tageslicht, die Schlinge um Rustys Hals zieht sich immer enger: DNA-Spuren tauchen auf, verdächtige Fotos, kompromittierende SMS. Doch nicht nur die gesammelten Beweise, auch Rustys Verhalten in der Gegenwart führen nach und nach dazu, dass man dem Mann irgendwann alles zutraut.
David. E. Kelley, der für Erfolgsdrehbücher wie „Big Little Lies“ bekannt ist, gelingt es, die Romanvorlage von Scott Turow in einen konsequenten Achtteiler zu verwandeln. Unter der Regie von Greg Yaitanes und Anne Sewitsky erwacht jede noch so kleine Nebenfigur zum Leben: Rustys Familie hält trotz seines Betrugs im stillen und dennoch nie naiven Vertrauen zu ihm. Als der Prozess schon in vollem Gange ist und sich ein schockierendes Detail nach dem anderen offenbart, schauen er und seine Frau Barbara (Ruth Negga) Arm in Arm auf der Couch fern.
Rustys Sohn empfiehlt ihm einmal ohne Zynismus, sich schuldig zu bekennen, um einer Gefängnisstrafe auf Lebenszeit zu entkommen. Seine Tochter erzählt ihm gelassen, dass sie in der Schule das Thema posttraumatische Dissoziation durchgenommen hätte, also das Phänomen, dass man sich manchmal an schlimme Ereignisse nicht mehr erinnern könne. So viel Coolness und Verzicht auf aufgeregtes Overacting zeigt eine Leinwandfamilie selten. Auch Rustys Verteidiger Raymond Horgan (Bill Camp) setzt einen sympathisch-gelassenen Kontrapunkt zum Widerling Dalton Caldwell (Matthew Alan), der die Rolle des Anklägers übernimmt.
Doch mit der Empathie, die die Serie selbst ihren Nebenfiguren gegenüber walten lässt, wächst auch die Liste der Verdächtigen: Neben Rusty rücken seine Frau, sein Sohn, seine Tochter, Carolyns Ex-Mann, Carolyns Sohn, Anwalt Dalton, ein im schon Gefängnis sitzender Mörder, sowie ein anderer nervöser Ehemann samt seiner Frau ins Rampenlicht.
Wer einmal lügt
So langsam und bedacht wie das Erzähltempo, das mit sorgsam gesetzten Wendepunkten am Ende jeder Folge auskommt, so nüchtern wirkt auch die dunkelgraue Optik, die sich wie Staub auf die perfekt polierten Marmordielen legt. Ein bisschen stören die vielen unnötigen Rückblenden zum leidenschaftlichen außerehelichen Sex, aber irgendwie muss man ja die aktuell unheimlich gefragte norwegische Schauspielerin Renate Reinsve ins Bild bekommen, wenn ihr schon die undankbare Aufgabe zufällt, eine von der ersten Szene an tote Frau zu spielen. Dem Femme-Fatale-Klischee, das schon dem gleichnamigen Spielfilm von 1990 vorzuwerfen war, entgeht sie weniger durch Charaktertiefe als durch ihre herrliche Durchschnittlichkeit – die wiederum ganz neue Projektionsflächen bietet.
„Presumed Innocent“ (Dt.: „Aus Mangel an Beweisen“) ist ein klassischer Whodunnit, der von der auch schon wieder klassisch gewordenen Besonderheit lebt, dass sich der Angeklagte selbst auf die Suche nach dem wahren Täter begibt, um seinen beschädigten Ruf wiederherzustellen. In seiner Hitchcockschen Grundkonzeption erinnert er damit an die fesselnde, 2020 erschienene Mini-Serie „The Undoing“ mit Hugh Grant und Nicole Kidman, auch wenn „Presumed Innocent“ weniger High-Society-Glamour und mehr Prozess-Büro-Lakonie versprüht.
Die entscheidende Frage lautet: Ist jemandem, der seine Fähigkeit zum Lügen schon einmal unter Beweis gestellt hat, noch zu trauen? „Ich habe meine Frau betrogen, aber das heißt noch lange nicht, dass ich ein Mörder bin“, beteuert Rusty seine Unschuld immer wieder. Doch wie überzeugend ist diese Aussage? Verweist die Eigenschaft, zu dem einen Regel-Bruch in der Lage zu sein, nicht auch auf die Fähigkeit, andere Grenzen ähnlich skrupellos zu überschreiten?
Ganz am Anfang, noch bevor die idyllische Familienszene bröckelt, erleben wir Rusty im Gerichtssaal, wie er die Jury und mit ihr das Fernsehpublikum adressiert: „Ich bitte Sie, Ihrer Pflicht gerecht zu werden.“ Hielten die Zuschauer die Schuld des Angeklagten für eher wahrscheinlich, müssten sie für „nicht schuldig“ plädieren. Hielten sie seine Schuld für sehr wahrscheinlich, müssten sie ihn ebenfalls freisprechen. Denn vor Gericht gehe es darum, Schuld jenseits vernünftiger Zweifel zu beweisen. Ähnlich professionell, ruhig und sicher trägt auch die Serie ihre Punkte vor, die den Zuschauer immer unruhiger und unsicherer werden lassen.
„Presumed Innocent – Aus Mangel an Beweisen“ (Acht Folgen) läuft ab dem 12. Juni auf Apple TV+.