Die Weichen wurden sozusagen gestellt, als Patricia – kurz Pat – Owtram noch ein Mädchen war und die Nazis die Herrschaft über Deutschland und Österreich übernahmen. Da stellte ihr Vater jüdische Flüchtlinge zum Kochen und Reinigen des Hauses der Familie in Lancashire ein, wo die Owtrams Shorthorn-Rinder züchteten und Pat auf einem Pony namens Dolly ritt.
Ein Flüchtling, Lilly Getzel, war eine gebildete Frau aus Wien, die Geschichten über Konzerte und die Oper erzählte – exotischer Stoff für Pat, die kaum ihr ländliches Zuhause verließ, weil Benzin zum Autofahren knapp war. Sie unterhielten sich in einer Kombination aus Deutsch, österreichischem Deutsch und Englisch. „Abende im Krieg waren angesichts der Rationierung von Sprit ziemlich langweilig“, sagt Owtram, die im Juni 2024 101 Jahre alt wird. „So haben wir denn viel miteinander geredet.“
Alle diese Gespräche zahlten sich aus, als Owtram sich 1942 um den Eintritt in den Women’s Royal Naval Service – den Frauendienst in der britischen Kriegsmarine – bewarb und ein Test zeigte, dass sie die deutsche Sprache fließend beherrschte. Die Wrens, wie der Service kurz genannt wurde, sahen darüber hinweg, dass sie sich als Kind eine Rindertuberkulose zugezogen hatte, die sie für den Dienst hätte disqualifizieren können, und gaben ihr eine sensible Sonderaufgabe. Owtram wurde eine von 400 Frauen, die während des Zweiten Weltkrieges im Rahmen des sogenannten Y-Dienstes – der britischen Funkaufklärung – in Stationen an der britischen Küste deutsche U-Boot-Kommunikationen abhörten.
Einfacher Sprachverkehr wurde übersetzt und an die Marine weitergeleitet. Aber codierte Signale gingen direkt an Bletchley Park, die geheime militärische Dienststelle zur Entschlüsselung codierter Nachrichten. Dort entwickelten Mathematiker und Analysten im Rahmen des Projekts „Ultra“ die Technologie zum Entziffern von Botschaften, die mit den deutschen Enigma-Chiffriermaschinen verschlüsselt worden waren.
Ab 1940 gelang es den Spezialisten in Bletchley Park, Schritt für Schritt den deutschen Funkverkehr zu entschlüsseln und damit die Position der deutschen U-Boote auszumachen, was entscheidend zu deren Niederlage in der „Schlacht im Atlantik“ beitrug. Eine ähnliche Rolle wie der Women’s Royal Naval Service spielten im Pazifikkrieg die australischen „Coastwatchers“, die die Alliierten über die japanischen Flottenbewegungen informierten.
Einziger Wermutstropfen für Owtram war es, dass sie wegen ihrer Erkrankung in der Kindheit vom Dienst im Ausland ausgeschlossen war. Ihre Schwester Jean – sie starb 2023 – konnte ihre Begabung in Sachen Sprache und Lösen von Rätseln bei Einsätzen in Ägypten und Italien umsetzen – als Chiffrierbeamtin beim britischen Nachrichtendienst für Spezialeinsätze (Special Operations Executive), bekannt auch unter dem Spitznamen „Churchills Geheimarmee“.
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„Wir konnten der deutschen Flotte lauschen, wenn die Schiffe aus der Ostsee kamen oder dorthin zurückmarschierten oder die Nordsee herunter“, beschreibt Owtram ihren eigenen Dienst. „Somit war mein Deutsch daheim in Großbritannien ziemlich nützlich.“ Mehr als das. Owtram wurde für ihre Arbeit für Bletchley Park mehrfach ausgezeichnet, so mit Frankreichs höchstem Verdienstorden, dem Orden der Ehrenlegion.
Sie erinnert sich noch gut an einen surrealen Augenblick in den Tagen vor der alliierten Landung in der Normandie im Juni 1944, als sie auf einem Kliff mit Blick auf den Ärmelkanal saß, sich nach Ende einer Schicht mit einem Buch entspannte. Als sie davon aufblickte, sah sie zu ihrer Überraschung Premierminister Winston Churchill und Feldmarschall Bernard Montgomery – Großbritanniens höchsten Offizier – auf dem Pfad zum Kliff auf sie zugehen.
„Ich war nicht ganz sicher, was tun, denn wenn du diese Art von Leuten im Krieg getroffen und einen Hut getragen hast, hast du salutiert. Wenn du keinen Hut getragen hast, hast du nicht salutiert“, sagte sie. „So war alles, was ich tun konnte, zu winken und zu sagen, „Hallo zusammen, guten Morgen!“ Und sie alle sagten „Guten Morgen“, und haben gewissermaßen gelächelt, auf eine sehr freundliche Weise.“
Owtram hörte später, dass Churchill und Montgomery an der Küste von Kent gesehen werden wollten – als Teil von Bemühungen der Alliierten, die Deutschen zu täuschen, sie auf den Gedanken zu bringen, dass die Landung in Calais stattfinden würde, nicht 240 Kilometer weiter westlich in der Normandie.
Nach dem Krieg arbeitete Owtram für die britische Botschaft in Norwegen und studierte an der schottischen University of St. Andrews, in Oxford und Harvard, bevor sie dann heiratete und eine Karriere als TV-Produzentin verfolgte. Sie wird oft unter ihrem Ehenamen Davies zitiert.
Zu ihren Erinnerungen zählt, dass sie und ihre Kolleginnen die Wachleute auf ihrer Basis nahe Dover dazu überredeten, ihnen „den Umgang mit einem Maschinengewehr beizubringen“ – wenn sie auch niemals in einem Notfall davon Gebrauch machen musste. Sie habe einst gesagt, dass sie glaube, die einzige respektable alte Dame in Chiswick – ihr Wohnort in London – gewesen zu sein, die wusste, wie man ein Maschinengewehr benutzt, so Owtram. „Ich hoffe, dass ich niemals gebeten werde, das zu demonstrieren. Ich bin sicher, dass ich heutzutage mein Ziel verfehlen würde.“