Nach acht Minuten Spielzeit wusste der Mann am Mikrofon, dass die Deutschen nur ein Wunder retten konnte. Mit 0:2 lagen sie an diesem 4. Juli 1954 im Berner Wankdorfstadion im Finale der Fußball-WM gegen das Team der Ungarn zurück – und just diese Elf hatte der Mannschaft in Schwarz-Weiß in der Vorrunde schon einmal acht Tore im Vorbeigehen reingehauen. In dieser Situation, speziell nach den Stümpereien der deutschen Hintermannschaft, an einen Sieg zu glauben, war in etwa so realistisch wie der Glaube daran, dass ein Spatz zum Mond fliegen kann.
Doch Herbert Zimmermann (1917–1966), den Reporter auf der Tribüne, focht das nicht an: „Es ist ein großer Tag für den deutschen Fußball, es ist ein stolzer Tag für den deutschen Fußball. Seien wir nicht so vermessen zu glauben, er müsse erfolgreich enden“, sagte er mit einem weichen rheinischen Einschlag, der die zivile Note dieser ohnehin gemäßigten Worte nur noch mehr steigerte.
In den Wochenschauen mochten weiterhin aggressive Schnarrstimmen von Erfolgen deutscher Athleten künden – doch Zimmermann, der den Zweiten Weltkrieg in der Ukraine und im Baltikum als Offizier nur verwundet überlebt hatte, weigerte sich, irgendwie militärisch zu klingen.
Historiker haben das 3:2 der westdeutschen Außenseiter gegen die übermächtigen Ungarn als ideelle Gründung der Bundesrepublik gedeutet. Hört man heute Zeitzeugen zu, muss das stimmen: Vor allem die Männer, die damals am Radio oder vor dem Fernseher saßen, können die Namen der elf Spieler noch immer flüssig herbeten, manche sogar mit Position und Verein.
Von Zimmermanns Reportage ist im Groben die Passage rund um „aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen“ geblieben, doch das wird ihr nicht gerecht. Denn auch er fügte dem Bild der Deutschen nicht nur nach dem frühen Rückstand eine neue Dimension zu.
An seinem Namen und seinem Äußeren konnte es kaum liegen. Fotos zeigen einen Mann, dessen Gesicht und Körperbau nichts von dem Filigranen haben, das einen Feingeist vermuten ließe. Allerdings ging es an diesem Tag ja für Zimmermann auch nicht um Sprachspielereien voller Esprit, es ging darum, ein Fußballspiel um die Weltmeisterschaft einem Volk näherzubringen, das dem Ausland neun Jahre nach Kriegsende als Weltverbrecher galt, das selbst aber nach einem Triumph lechzte und den nun für möglich hielt. Kurz: Was der Reporter zu leisten hatte, war beinahe übermenschlich.
Zimmermann löste diese Aufgabe, indem er sich nicht groß um sie kümmerte. Selbstredend war er komplett parteiisch, sogar so sehr, dass ihm seine Hymne auf Torwart Toni Turek – „Turek, du bist ein Fußballgott!“ – im Nachgang des Spiels Ärger mit den Kirchen einbrachte. Auch von britischer Coolness am Mikrofon ist nichts zu merken, die Stimme überschlug sich mehrfach.
Aber trotzdem lässt sich nicht behaupten, der Kommentar sei unfair gewesen – zu oft bezeichnete Zimmermann ungarische Spieler als „großartig“, zu sehr liebt er das Spiel als solches für abfällige Bemerkungen über das, was auf dem Rasen passiert. Das ist es, was diesem Stück Journalismus bis heute Kraft verleiht.
Seinen Enthusiasmus ohne jede Aggression behielt Zimmermann bis zu seinem Tod infolge eines Autounfalls 1966 bei. Er feuerte deutsche Sportler an, blieb im Falle ihres Siegs aber immer bescheiden und im Fall ihrer Niederlage neidlos. Man sehnt diese Haltung bei vielen seiner Kollegen herbei, die heute an den Mikrofonen sitzen.
Und weil eine Kostprobe nie schaden kann, hier noch einmal die berühmteste Sequenz von 1954: „Sechs Minuten im Berner Wankdorfstadion und keiner wankt ... Bozsik, immer wieder Bozsik, der rechte Außenläufer der Ungarn, er hat den Ball – verloren dieses Mal an Schäfer ... Schäfer nach innen geflankt, Kopfball abgewehrt, aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen ...“
Und Rahn schoss.
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