WELTGo!
Ihr KI-Assistent für alle Fragen
Ihr KI-Assistent für alle Fragen und Lebenslagen
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Politik
  3. Ausland
  4. Europa ringt um Ukraine-Beitritt: „Gespräche hätten niemals beginnen dürfen“

Ausland Beginn der Verhandlungen

„Gespräche hätten niemals beginnen dürfen“ – Europa ringt um Ukraine-Beitritt

Korrespondent in Brüssel
Der ukrainische Präsident Selenskyj im April in Brüssel bei Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Der ukrainische Präsident Selenskyj im April in Brüssel bei Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
Der ukrainische Präsident Selenskyj im April in Brüssel bei Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
Quelle: dpa
Heute nimmt die EU formal die Aufnahmegespräche mit Kiew auf. Europa ist in der Frage tief gespalten, die Risiken sind groß. Wann kann die Ukraine frühstens beitreten? Und warum wird ausgerechnet Putin den Prozess an entscheidender Stelle beeinflussen? WELT beantwortet die wichtigsten Fragen.
Hier können Sie unsere WELT-Podcasts hören
Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.

Während der Krieg zwischen der Ukraine und Moskau nach mehr als zwei Jahren mit unverminderter Härte weitergeht, verhandelt Kiew ab dem heutigen Dienstag über einen Beitritt zur Europäischen Union. In sogenannten Regierungskonferenzen werden zunächst die Leitlinien für die Beitrittsgespräche festgelegt, die ebenso mit der Republik Moldau beginnen. Insgesamt neun Staaten haben den Status eines EU-Beitrittskandidaten. Sie befinden sich aber in sehr unterschiedlichen Stadien der Gespräche. Zu den Kandidatenländern zählen neben der Ukraine, Moldau und Georgien die sechs Westbalkanländer Serbien, Montenegro, Nordmazedonien, Albanien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo. WELT beantwortet die wichtigsten Fragen.

Wann werden die Ukraine und Moldau EU-Mitglieder?

Das ist völlig unklar. Kiew drängt auf eine schnelle Mitgliedschaft – auch, um dem Wiederaufbau des Landes und der Motivation der Bevölkerung einen Schub zu verleihen. „Motivation ist eine Waffe. Und sie muss geladen werden“, sagte Ukraines Präsident Selenskyj. Fest steht: Solange der Krieg in der Ukraine nicht beendet ist, wird die EU einem Beitritt niemals zustimmen. Andernfalls hätte sie nach Artikel 42 Absatz 7 eine militärische Beistandsverpflichtung. Es ist nicht einmal sicher, ob die Ukraine überhaupt in den kommenden 20 oder 30 Jahren beitreten wird.

Lesen Sie auch

Die Entscheidung darüber wird maßgeblich davon abhängen, wie die Friedensverhandlungen zwischen Moskau und Kiew zu einem weiter unbekannten Zeitpunkt verlaufen werden. Theoretisch denkbar ist auch, dass ein Beitrittskandidat niemals Mitglied wird. Genau dazu könnte es in diesem Fall auch kommen. Dabei hängen die Beitrittsgespräche der EU mit der Ukraine und Moldau, die formal völlig unabhängig voneinander sind, politisch eng zusammen.

Es ist davon auszugehen, dass Moldau erst dann beitreten wird, wenn ein Friedensvertrag zwischen Moskau und Kiew existiert. Denn in Brüssel gibt es hinter vorgehaltener Hand die große Sorge, dass ein Beitritt Moldaus ohne Zustimmung Moskaus zu einem Angriff auf das Land durch Russland führen könnte. Um es klar zu sagen: Über die EU-Mitgliedschaft der Ukraine und Moldaus entscheidet nicht die Europäische Union allein, sondern auch Moskau.

Wie verlaufen die Verhandlungen?

Es gibt insgesamt 35 Verhandlungskapitel zu unterschiedlichen Themen wie etwa Wirtschaft, Außenpolitik und Justiz. Die Europäische Kommission prüft in einem „Screening“ für jedes Verhandlungskapitel, inwieweit das nationale Recht des Beitrittskandidaten von den EU-Rechtsnormen, dem sogenannten Acquis, abweicht und der Anpassung bedarf. Über die Eröffnung und Schließung eines Verhandlungskapitels entscheiden die 27 Mitgliedstaaten einstimmig nach einer vorherigen Empfehlung der EU-Kommission.

Brüssel fordert, dass bereits in einem frühen Stadium Fortschritte bei grundlegenden Beitrittsvoraussetzungen wie Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und der Stärkung demokratischer Institutionen. Begonnen werden dürfte aber mit einem „leichten“ Kapitel, wie Kulturfragen. Erstmalig in der Geschichte der EU verhandelt mit der Ukraine ein Land über die Mitgliedschaft, das sich im Krieg befindet.

Die Meinungen darüber, ob die Union deswegen bei der Erfüllung der Beitrittsanforderungen durch Kiew ein Auge zudrücken sollte, gehen zwischen den Hauptstädten weit auseinander. Für jeden einzelnen Verhandlungsschritt ist ein einstimmiger Beschluss der Mitgliedstaaten notwendig. Ungarns Regierungschef Viktor Orbán merkte dazu süffisant an, es gebe noch „mindestens 75 Gelegenheiten“, den Beitritt der Ukraine zu stoppen.

Wie groß ist die Unterstützung für einen Beitritt?

Im Fall Moldaus ist sie generell größer als bei der Ukraine, weil das Land viel kleiner ist und sich nicht im Krieg befindet. Die baltischen und osteuropäischen Staaten fordern, dass Kiew bereits in den kommenden Jahren beitreten soll, zahlreiche Staaten, wie Frankreich, Italien oder Spanien sind aber skeptisch. Ungarn ist gegen einen Beitritt. Deutschland verhält sich bisher weitgehend neutral, aus Sicht Kiews aber zu abwartend.

EU-Beamte, die mit den Gesprächen vertraut sind, sagten WELT: „Eigentlich hätten die Beitrittsgespräche mit der Ukraine jetzt noch niemals beginnen dürfen, weil die Voraussetzungen bei Weitem nicht erfüllt sind, etwa im Bereich Korruptionsbekämpfung“. Die Kommissionsbehörde unter Leitung von Ursula von der Leyen setzt offiziell aber auf einen möglichst raschen Beitritt. EU-Ratspräsident Charles Michel hatte kürzlich als Zieldatum das Jahr 2030 genannt. Das dürfte aber unrealistisch sein. Der Chef des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, David McAllister (CDU), warnt jedenfalls vor einer Turbo-Mitgliedschaft. Der Beitritt sei „eben noch ein weiter Weg“, sagte er.

Die Wählermeinungen über einen Beitritt der Ukraine gehen weit auseinander, nur in Osteuropa und im Baltikum ist die Zustimmung hoch. In Österreich vertraten beispielsweise laut Umfrage des „European Council on Foreign Relations“ nur 28 Prozent der Befragten Ende vergangenen Jahres die Ansicht, dass die Ukraine EU-Mitglied werden soll, in Deutschland waren es immerhin 37 Prozent. Viele Menschen befürchten Folgen für die Sicherheit der EU und exorbitante Kosten. Diese Ängste sind nicht unbegründet. Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) würden unter den heutigen Bedingungen bis nahezu 20 Prozent des gesamten EU-Haushalts allein in die Ukraine fließen.

Wie reagieren die anderen Beitrittskandidaten?

Anzeige

Obwohl die EU den Westbalkan-Staaten bereits 2003 ein Beitrittsversprechen gegeben hatte, ist bisher kein Land Mitglied geworden. Nun gibt es auf dem Westbalkan Befürchtungen, die Ukraine und Moldau könnten früher aufgenommen werden, obwohl die Beitrittsgespräche in den meisten Fällen viel später begonnen haben. Dementsprechend fällt der Vorwurf einer „Zweiklassengesellschaft“. Das Thema ist politisch äußerst sensibel und die Stimmung könnte dazu führen, dass die Menschen im Westbalkan Vertrauen in die EU verlieren.

Könnte die EU einen Beitritt der Ukraine überhaupt verkraften?

Die sogenannte Absorptionsfähigkeit der EU für neue Mitglieder spielt während des Beitrittsprozesses eines Landes eine zentrale Rolle. Dieser Aspekt kommt bei der Debatte über einen Beitritt der Ukraine häufig zu kurz. Unter den heutigen Bedingungen wäre die EU – anders als bei Moldau – im Fall eines großen und teilweise zerstörten Landes wie der Ukraine nicht in der Lage eine Mitgliedschaft zu stemmen. Die Kosten wären einfach zu hoch und dementsprechend müssten die übrigen Mitgliedsländer kürzertreten.

Welche Optionen hat Brüssel? Entweder könnte der EU-Haushalt (1100 Milliarden Euro für sieben Jahre) drastisch erhöht oder die bisherigen Regeln insbesondere bei der Verteilung der Agrar- und Regionalförderung müssten geändert werden. Beides dürfte politisch äußerst schwer durchsetzbar sein, insbesondere, wenn die Rechtspopulisten in Europa noch stärker werden sollten. Zumal die Westbalkanstaaten auch finanzielle Ansprüche in die Verhandlungen mitbringen. Daneben müssten auch die Abstimmungsregeln in der Außen- und Finanzpolitik geändert werden, damit eine Union, die künftig aus 33 bis 36 Mitgliedern besteht, entscheidungsfähig bleiben kann. Dazu müsste die Bedingung der Einstimmigkeit bei wichtigen Fragen abgeschafft werden, damit nicht ein Land alle anderen Mitglieder blockieren kann. Dazu wäre aber wiederum Einstimmigkeit notwendig, was aus heutiger Sicht als nahezu unmöglich gilt.

Wie lautet das Fazit?

Es dürfte noch mehrere Jahrzehnte dauern, bis die Ukraine und Moldau der EU beitreten werden. Die EU ist in dieser Frage tief gespalten. Konsens ist lediglich, jetzt mit den Beitrittsgesprächen zu beginnen, um Kiew im Verteidigungskampf gegen den russischen Aggressor zu unterstützen. Ein Beitritt der Ukraine hätte für die EU gravierende Folgen, insbesondere in Verteilungsfragen. Wie sich dies auf die Zustimmung für das europäische Projekt auswirken würde, bleibt offen.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema