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Geschichte „Walküre“ – neu rekonstruiert

Um 21.20 Uhr wusste Hitlers Sekretär, dass Olbricht zu den Verschwörern zählte

Zum 80. Jahrestag des misslungenen Staatsstreichs gegen das NS-Regime am 20. Juli 1944 definiert der Historiker Johannes Tuchel den Forschungsstand neu. So wird das tragische Scheitern der Widerstandsbewegung besser nachvollziehbar.
Leitender Redakteur Geschichte
Adolf Hitler mit Benito Mussolini in der zerstörten Lagebaracke noch am Tag des Attentats im Hauptquartier Wolfsschanze Adolf Hitler mit Benito Mussolini in der zerstörten Lagebaracke noch am Tag des Attentats im Hauptquartier Wolfsschanze
Adolf Hitler mit Benito Mussolini in der zerstörten Lagebaracke noch am Tag des Attentats im Hauptquartier Wolfsschanze
Quelle: picture alliance/SZ Photo/Scherl

War die Überraschung echt – oder doch nur gut gespielt? „Ich habe noch nie in meinem ganzen Leben einen Menschen so zusammenzucken sehen“, erinnerte sich der damalige Oberstleutnant Ludolf Gerhard Sander an die Reaktion des Obersten Claus Schenk von Stauffenberg, als am 20. Juli 1944 gegen 12.42 Uhr eine Detonation das Areal des Führerhauptquartiers Wolfsschanze in Ostpreußen erschütterte. Sander selbst nahm es ungerührt und erklärte, ohne sich dabei „etwas Ernstes zu denken“, wie wenig später im Ermittlungsbericht der Gestapo vermerkt wurde, „dass es öfter passiere, dass jemand schieße oder eine Mine hochgehe“.

Doch an diesem heißen Donnerstagmittag hatte niemand in der Wolfsschanze geschossen; es war auch kein Tier auf einen der mehr als 54.000 vergrabenen Sprengkörper im Minenfeld um die rund 80 Bunker oder Baracken getreten. Vielmehr war unter dem Tisch in der „Lagebaracke“ während der Besprechung des „Führers und Reichskanzlers“ Adolf Hitlers mit seinen wichtigsten Militärs etwa ein Kilogramm Plastit W detoniert. Eine geheime, hocheffektive Sprengstoffmischung, gezündet durch einen lautlosen Säurezeitzünder, dessen Verzögerung jedoch stark von der Temperatur abhängig war.

Vielleicht erschrak Stauffenberg also, weil er noch gar nicht mit der Explosion gerechnet hatte? Gerade erst hatte er sich ein Auto organisiert, um das tief im Wald versteckte Führerhauptquartier so schnell wie möglich Richtung Flughafen zu verlassen.

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Seine Bombe hatte er gelegt, und deshalb musste er sofort zurück nach Berlin, an seinen Schreibtisch als Chef des Stabes beim Befehlshaber des Ersatzheeres, wie sein vollständiger Titel lautete. Das hatte nichts mit Sorge um das eigene Leben zu tun oder gar mangelnder Bereitschaft, als Selbstmordattentäter eine Bombe in Hitlers Nähe auszulösen. Jedoch war Stauffenberg der einzige Verschwörer, der rein formal den entscheidenden Befehl auslösen und bestätigen konnte.

Unter falscher Flagge

Denn die Idee vor allem der beiden Verschwörer Henning von Tresckow und Friedrich Olbricht sah vor, das NS-Regimes nach dem Attentat auf Hitler gewissermaßen „unter falscher Flagge“ zu stürzen: Man wollte das „Unternehmen Walküre“ auslösen, an sich eine Vorbereitung gegen Aufstände im Inneren des Reiches, etwa von Kriegsgefangenen oder KZ-Häftlingen, vielleicht sogar der Zivilbevölkerung. Doch seit Juli 1943 hatten die Verschwörer diese Pläne in ihrem Sinne insgeheim neu gefasst – und dem zentralen Befehl einen neuen Anfang verpasst: „Der Führer Adolf Hitler ist tot.“

Etwa so sah der Lageraum im Führerhauptquartier Wolfsschanze am Morgen des 20. Juli 1944 aus. Der Nachbau entstand für den Film „Valkyrie“
Etwa so sah der Lageraum im Führerhauptquartier Wolfsschanze am Morgen des 20. Juli 1944 aus. Der Nachbau entstand für den Film „Valkyrie“
Quelle: Aus dem besprochenen Band

Es sollte der Eindruck erweckt werden, dass nach Hitlers Tod „eine gewissenlose Clique frontfremder Parteiführer“ versucht habe, die Macht an sich zu reißen. In dieser Situation sollten die Ersatzverbände der Wehrmacht in der Heimat, darunter Ausbildungseinheiten und bereits eingeschränkt wieder diensttaugliche Rekonvaleszenten, die Funktionäre der NSDAP und der von der SS durchdrungenen Polizeibehörden festsetzen und vorläufig ein Militärregime errichten. Mittelfristiges Ziel war ein Separatfrieden mit den Westmächten und eine Stabilisierung der Front im Osten. Zu dieser Zeit stand die Rote Armee an der Weichsel, also noch weit vor dem eigentlichen deutschen Staatsgebiet.

Das Problem: Nur die Inhaber zweier Funktionen im Wehrmachtapparat waren formal berechtigt, bei Nachfragen aus den Wehrkreisen (der regionalen Gliederung der Wehrmacht im Reich) die „Walküre“-Befehle zu bestätigen: Generaloberst Friedrich Fromm, der Befehlshaber des Ersatzheeres (die den Wehrkreisen übergeordnete Institution) – und sein Chef des Stabes: Claus Schenk von Stauffenberg. Daher musste er nach der Explosion unbedingt schnellstmöglich nach Berlin zurück, denn auf Fromm war kein Verlass.

Soweit ist die Vorgeschichte am 20. Juli 1944 bekannt. Jedoch stammte das meiste bisherige Wissen um diesen wichtigen Tag vor allem aus den Arbeiten eines Historikers: Peter Hoffmann (1930–2023) hatte sich, seit er 1961 als Assistent und später Professor in die USA, anschließend nach Kanada gewechselt war, intensiv mit dem deutschen Widerstand und verwandten Themen befasst. Dazu befragte er sämtliche noch lebenden Zeitzeugen des 20. Juli und weitere Überlebende des militärischen Widerstandes gegen Hitler, sicherte damit Erinnerungen wie die von Ludolf Gerhard Sander und vielen anderen, wertete außerdem die damals verfügbaren Akten aus. Gestützt darauf verfasste er die maßgebliche Biografie über Stauffenberg und seine Brüder.

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Jedoch ist es nie gut, wenn ein einzelner Forscher ein Themenfeld jahrzehntelang derartig dominiert – auch wenn an seinen Ergebnissen grundsätzlich wenig auszusetzen ist. Doch es fehlen andere Aspekte, Perspektiven, Gewichtungen, die (Geschichts-)Wissenschaft erst ertragreich machen. Denn kein echter Forscher macht sich Parolen wie „Follow the science“ zu eigen, weil bekannt ist, dass es die eine, immer richtige Sicht in keinem Fachgebiet gibt.

Seine wichtige Rolle beim „Unternehmen Walküre“ wird oft übersehen: Friedrich Olbricht
Seine wichtige Rolle beim „Unternehmen Walküre“ wird oft übersehen: Friedrich Olbricht
Quelle: picture alliance/SZ Photo
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Daher ist es gut, dass der Historiker Johannes Tuchel, im Hauptberuf seit vielen Jahren Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand (GdW) in Berlin, das bisherige Wissen über das Attentat auf Hitler 1944 einer grundsätzlichen Überprüfung unterzieht. Schon 2021 ist sein zusammen mit Uwe Neumärker verfasster Band „Der 20. Juli 1944 im Führerhauptquartier Wolfsschanze“ (Lukas Verlag. 372 S., 24,90 Euro) erschienen; Neumärker, an sich der Chef der Stiftung Denkmal für die ermorden Juden Europas (besser bekannt als Holocaust-Mahnmal) ist der zweifellos beste Kenner aller Details über den Tatort des Anschlages. In Kürze lässt Tuchel als Vervollständigung den zusammen mit Christin Sandow von der GdW erarbeiteten Band „Der 20. Juli 1944 in Berlin“ (ebenfalls Lukas Verlag. 300 S., 24,90 Euro) folgen.

Diese beiden Publikationen definieren zusammen den aktuellen Stand an Forschungen. Tuchel und seine Co-Autoren haben dazu sämtliche Archivalien, Fotos und andere Quellen ausgewertet, die Hoffmann teilweise nicht oder nur kursorisch kannte. Das Ergebnis ist eine deutlich differenziertere Rekonstruktion von Stauffenbergs Handeln als bisher möglich. Gefasst sind die Erkenntnisse in Form einer Chronik der entscheidenden gut 18 Stunden vom Aufbruch Stauffenbergs in seiner Berliner Wohnung am Morgen des 20. Juli bis zu seiner (von Fromm angeordneten) standrechtlichen Erschießung bald nach Mitternacht am 21. Juli.

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Eine der zahlreichen Neubewertungen Tuchels betrifft den zusammen mit Stauffenberg exekutierten General Olbricht, der bis zum 30. Juni 1944 Stauffenbergs direkter Vorgesetzter gewesen war: eine unverdientermaßen selten bekannte Hauptperson des militärischen Widerstandes. Seine entscheidende Rolle bei der Vorbereitung des Staatsstreichs und der Manipulation der „Walküre“-Befehle wurde in der Wolfsschanze lange nicht durchschaut.

Verweigerter Befehl

Gegen 18 Uhr, also mehr als fünf Stunden nach dem Attentat, gab es keinen Verdacht gegen Olbricht. Und noch gegen 20.20 Uhr schickte Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Hitlers Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, den Wehrkreisbefehlshabern ein Fernschreiben mit der Nachricht, Fromm sei abgesetzt und als sein Nachfolger SS-Chef Heinrich Himmler zum Befehlshaber des Ersatzheeres ernannt worden; Befehle seien fortan nur noch von Keitel oder Himmler entgegenzunehmen.

Dieses Fernschreiben war auch an General Olbricht adressiert. „Keitel weiß also um 20.20 Uhr noch nicht, dass Olbricht am Umsturzversuch beteiligt ist“, schließt Tuchel. Als der Text gegen 21 Uhr in Olbrichts Dienststelle, dem Allgemeinen Heeresamt im Berliner Bendlerblock eintraf, demselben Gebäude, in dem auch das Ersatzheer amtierte, erhielt es der General sofort vorgelegt – und ordnete an, es nicht weiterzuleiten.

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Doch das ignorierten zwei seiner Untergebenen und schickten Keitels Befehl in den folgenden Stunden an eine Vielzahl militärischer Kommandostellen; die bis dahin abgesandten Fernschreiben der Verschwörer mit den „Walküre“-Befehlen wurden zugleich für ungültig erklärt. Außerdem informierten sie offenbar die Wolfsschanze, denn um 21.20 Uhr wusste Hitlers Sekretär Martin Bormann, dass Olbricht zu den Verschwörern zählte, wie seine Weisung an die NSDAP-Gauleiter zeigt, die im Bundesarchiv überliefert ist.

Die Rekonstruktion historisch bedeutsamer Tage wie des 20. Juli 1944 ist, man sieht es an Tuchels detaillierter Arbeit, oft sehr kleinteilig. Doch nur so lassen sich Abläufe erklären und einordnen. Zum 80. Jahrestag des tragischerweise misslungenen Attentats auf Hitler gibt es einen neuen Stand der seriösen Forschung – das ist eine gute Nachricht für alle, die sich ernsthaft für Geschichte interessieren.

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