Die Anweisung war kryptisch, doch für ihren Adressaten völlig klar. Zur Fußballweltmeisterschaft in der Bundesrepublik im Sommer 1974 sollte sich der Inoffizielle Mitarbeiter (IM) der DDR-Staatssicherheit „Rennfahrer“ Heinrich Peter Schneider auf Abruf bereithalten und für die drei Wochen des Turniers eine Wohnung in Köln anmieten.
Dort hatte er sich aufzuhalten und telefonisch erreichbar zu sein. Ferner sollte er eine bereits 1972 geschreinerte große Transportkiste besorgen, die zwischenzeitlich verliehen worden war, und seinen Bekannten Heinrich Th. vorwarnen. Der Inhaber einer kleinen Spedition war unter dem Decknamen IM „Palermo“ ebenfalls für die Stasi aktiv.
Schneider wusste, worum es ging, denn einen fast identischen Auftrag hatte er bereits zu den Olympischen Sommerspielen im August und September 1972 in München bekommen: Falls „führende Stellen in der DDR“ den Rücktransport von möglichen Flüchtlingen der DDR-Olympiamannschaft anordneten (oder anderer Personen aus deren Tross, die nicht in die DDR zurückkehren wollten), dann sollte IM „Rennfahrer“ mit seinen Helfershelfern diese Menschen kidnappen und in der Kiste über die innerdeutsche Grenze in die SED-Diktatur zurückbringen.
Natürlich erfüllte Schneider, einer der wichtigsten DDR-Agenten für „nasse“ Jobs im Westen und Kopf eines IM-Netzwerkes in der Bundesrepublik, diesen Auftrag: Er mietete bei seiner Schwester in Köln ein Zimmer, zahlte 500 Mark Miete und teilte seinem MfS-Führungsoffizier die Telefonnummer des Stützpunktes mit. Es war bereits mindestens der 15. kriminelle Auftrag, der er seit Sommer 1970 für den ostdeutschen Geheimdienst erledigte.
Für die Stasi war der Sommer 1974 eine vielleicht noch größere Herausforderung als die Olympischen Spiele. Denn zum ersten (und einzigen) Mal hatte sich Auswahl der DDR für eine Fußballweltmeisterschaft qualifiziert – und noch dazu beim „Hauptfeind“, in der Bundesrepublik. Und es kam noch „schlimmer“: Bei der Gruppenauslosung am 5. Januar 1974 hatte sich ergeben, dass die deutsche Nationalmannschaft und die DDR-Auswahl schon in der Vorrunde aufeinander treffen sollten. Genauer gesagt in Hamburg am 22. Juni 1974.
Schon vorab hatte das MfS intern und nur in vier Exemplaren eine „Information über bekannt gewordene Hinweise im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Fußballweltmeisterschaft 1974“ herumgeschickt. Sie beruhten „in der Mehrzahl auf offiziellen Verlautbarungen westlicher Publikationsorgane“, die aber durch konspirativ „erarbeitete“ Informationen des MfS bestätigt worden waren.
Man fürchtete „Aktivitäten terroristischen Charakters“, ferner „geplante Demonstrationen links- und rechtsextremistischer Kräfte“ sowie Proteste gegen die DDR-Mannschaft. So könnten arabische, genauer: palästinensische Terroristen die gefüllten Stadien „unter Beschuss nehmen“; auch ein „Zusammengehen mit deutschen Terroristen“ werde befürchtet. Anhänger der im Sommer 1972 verhafteten ersten „Generation“ der Baader-Meinhof-Bande und der im Februar 1974 festgenommenen Nachfolger könnten mit den Palästinensern kooperieren.
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Sorgen hatte das MfS vor allem vor dem Spiel DDR gegen Chile am 18. Juni 1974 ausgerechnet im West-Berliner Olympiastadion, denn der Militärputsch im südamerikanischen Land gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende lag erst ein Dreivierteljahr zurück. Die große Mehrheit der Einwohner der eingemauerten Stadt seien zwar „antikommunistisch“ eingestellt, jedoch gebe es einen festen Kern linker Studenten, die „bei jedem beliebigen Anlass auf die Straße gingen“. Die Polizei werde sich deshalb womöglich mit zwei Demonstrationen auseinandersetzen müssen, einmal gegen das DDR-Regime und einmal gegen die chilenische Mannschaft.
Zum Spiel in Hamburg gegen die Bundesrepublik reiste die DDR-Auswahl mit dem Bus aus dem Mannschaftsquartier in Quickborn an. Das Volksparkstadion war bis auf den letzten Platz ausverkauft, denn sämtliche 60.341 Karten (27.541 für Sitz- und 32.800 für Stehplätze) wurden im Vorverkauf abgesetzt. Da auch von außerhalb keine Eintrittskarten nach Hamburg zurückkamen, wurden die Stadionkassen gar nicht erst geöffnet. Unter den Zuschauern befanden sich allerdings nur rund 1700 „Schlachtenbummler“ aus der DDR.
Die Stasi hatte vorab gewarnt: „In Anbetracht der vorgenannten Probleme erscheint es zweckmäßig, den Personenkreis, der für den Besuch der Endrundenspiele vorgesehen ist, zumindest über wesentliche Momente möglicher Provokationen und Ausschreitungen und der zu erwartenden Situation in geeigneter Form zu informieren.“ Das war nicht weiter schwierig, handelte es sich doch ausnahmslos um streng gesiebte staatstreue DDR-Bürger.
So mussten auch weder IM „Rennfahrer“ noch IM „Palermo“ tätig werden (wie übrigens auch bereits 1972 nicht – die Transportkiste blieb unbenutzt). Das Spiel selbst ging in die deutsch-deutsche Sportgeschichte ein: Beim Match „Wir gegen uns“ erzielte Jürgen Sparwasser vom 1. FC Magdeburg in der 77. Spielminute den Siegtreffer für die DDR. Angeblich sahen weltweit an den Fernsehschirmen eine Milliarde Menschen zu.