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Meinung DDR–BRD 1974

Wie meine schlimmste Schmach sich in den schönsten Sieg verwandelte

Redakteur Feuilleton
Welche Mannschaft war die deutschere? Deutschland gegen DDR in Hamburg Welche Mannschaft war die deutschere? Deutschland gegen DDR in Hamburg
Welche Mannschaft war die deutschere? Deutschland gegen DDR in Hamburg
Quelle: picture-alliance / dpa
Die Nationalmannschaft war in der DDR so unbeliebt wie der Staat. Als es am 22. Juni 1974 zum einzigen Spiel gegen Deutschland kam, war das Land aber weit weniger gespalten, als der Westen dachte. 50 Jahre danach ist es höchste Zeit, aus ostdeutscher Sicht einiges richtigzustellen.

Acht, beinahe neun war ich im Sommer 1974. Meine Helden sangen zur WM im eigenen Land ein Lied: „Ha! Ho! Heja heja he! Fußball ist unser Leben, denn König Fußball regiert die Welt.“ Ich war besessen und trat gegen alles, trug mein Haar wie Günter Netzer und die Stutzen wie Paul Breitner, bildete mir ein, den Ball zu führen wie Franz Beckenbauer und freute mich auf das Spiel der Spiele. Deutschland, meine Nationalmannschaft, gegen die DDR, die Auswahl meiner Heimat. Alle, die ich kannte, fieberten dem Sieg der Stars aus ARD und ZDF entgegen – bis auf einen, den dicklichen Sohn des Stasioffiziers in meinem Wohnblock.

Man weiß, wie es ausging am 22. Juni 1974 im Hamburger Volksparkstadion: Die DDR gewann das einzige Duell gegen den Klassenfeind, das jemals ausgetragen wurde, durch ein Tor von Jürgen Sparwasser mit 1:0. Nie wieder habe ich an einer Niederlage mehr gelitten. 16 Jahre lang. Dann war die Mauer weg, Deutschland wurde nach 1974 erstmals wieder Weltmeister, und Beckenbauer prophezeite, mit der deutschen Einheit und den DDR-Fußballern werde die Nation im Fußball unbesiegbar sein. Ich fühlte mich im Sommer 1990 schon wieder als Weltmeister wie 1974 und als Kind der 1954er, erlebte aber auch einen verwirrenden Sinneswandel: Während mein Land, das ich nie gemocht hatte, verschwand, verwandelte sich meine schlimmste Niederlage in den schönsten Sieg mit einem Helden namens Sparwasser.

Seither habe ich einiges gelesen und gesehen zum Trauma von Hamburg aus westdeutscher Sicht. Franz Josef Degenhardt erzählt davon in „Brandstellen“, einem Roman über einen Hamburger Rechtsanwalt und seinen Stadionbesuch: „Man spielte: ‚Auferstanden aus Ruinen‘, zum bösen Gepfeife vor allem in den Stehtraversen hinter den Toren und im Block links neben ihnen, und dieser Block sang dann auch die erste Strophe vom Deutschlandlied, schwenkte dazu schwarzrotgoldene Fähnchen und ‚Bild‘ mit der Schlagzeile: ‚Warum wir heute gewinnen‘.“

Degenhardt beschreibt das Spiel der Arbeiter gegen die Künstler und der Republikanischen gegen die Demokratischen. Als „Brandstellen“ erschien, drei Jahren nach dem Sieg der DDR, kannte man das Wort „Westplaining“ noch nicht. Aber das ist es, was die vielen Bücher und noch weit mehr Film- und Fernsehdokumentationen tun: Der Osten wird erklärt, vom Westen.

„Fußballkrieg der Stasi“ heißt so eine Doku über das „Duell der Brüder“, den „Kampf der Systeme“ und die Aktion „Leder“ der Staatssicherheit, um die „Staatsamateure der DDR“ in Quickborn, in ihrem WM-Quartier, zu kontrollieren. Es gibt sogar einen Comic, allerdings aus Frankreich, der in den Ruinen 1945 in Berlin anfängt und damit endet, dass die DDR die BRD in Hamburg schlägt. „Das Spiel der Brüder Werner“ handelt von zwei Stasispitzeln und der Aktion „Leder“.

Erich Honecker sagt im Palast der Republik zu Erich Mielke: „Ich habe die letzten Berichte der Aktion ‚Leder‘ gelesen. Ich mache mir keine Illusionen. Das Spiel ist von vornherein verloren.“ (1974 gab es noch keinen Palast der Republik.) In Quickborn schwört der Trainer, Georg Buschner, seine Mannschaft ein: „Wir alle wissen, wie wichtig das Spiel am Samstag gegen die BRD ist. Wichtig für die Bundesrepublik, für Generalsekretär Honecker, für den Sozialismus. Doch vor allem ist das Spiel am Samstag ein Klassenkampf.“ (So eine Rede hat es nie gegeben, Buschners Aversion gegen Agitationen aller Art über das Sportliche hinaus sind aktenkundig.)

„7, 8, 9, 10 – klasse!“

Nun, zum 50-jährigen Jubiläum, scheint es an der Zeit, die Ostdeutschen an der Geschichte teilhaben zu lassen. Ronald Reng, bekannt für seine Fußballfeuilletons und Bücher wie „Die Weltmeister“ und „Spieltage“ schildert in „1974 – Eine deutsche Begegnung“ nicht nur, dass die DDR dem Spiel weit weniger Bedeutung zumaß, als im Westen alle dachten. Was im Wesentlichen mit der Rolle, die der Fußball in der DDR einnahm, zu tun hatte: keine Medaillen für den Sieg des Sozialismus, langmähnige Lebemänner, die den Sport ausübten, und die wilden Subkulturen in den Stadien.

Reng berichtet nicht nur von jenen anderthalbtausend amtlich auserwählten „Schlachtenbummlern“, die mit ihren DDR-Fähnchen nach Hamburg reisen und im Stadion nichts anderes skandieren durften als „7, 8, 9, 10 – klasse!“, „Wo bleibt denn das 1:0?“ und „DDR vor, noch ein Tor!“ Reng stützt sich auch auf Zeitzeugen aus West und Ost, um die Asymmetrie der Sichtweisen historisch herzuleiten.

Für den Westen spricht der Schauspieler Matthias Brandt als Sohn des damals gerade abgelösten Bundeskanzlers, der die Emanzipation der DDR befördert hatte und über den Kanzleramtsspion Günter Guillaume gestürzt war. Reng über den damals 12-Jährigen und seine Gedanken vor dem Fernseher über die Ostfußballer: „Was sind das für Freaks, dachte Matthias Brandt. Hörte er DDR, dachte er an nichts. Dass die anderen auch eine deutsche Mannschaft waren, war ihm gar nicht bewusst.“

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Den Osten vertritt Roland Jahn. Der letzte Leiter der Stasiunterlagenbehörde ist zwei Fans in einem: Fan der deutschen Nationalmannschaft und Fan von Carl Zeiss Jena: „Er gönnte der DDR keinen Sieg, also nicht dem Staat, und wäre stolz, sollten seine DDR-Fußballer alle mit einem Sieg überraschen. Roland Jahn kannte viele, die es niemals über sich gebracht hätten, die DDR bei einem Länderspiel anzufeuern, auch wenn sie die Fußballer selbst mit Sympathien begleiteten. Aber wie repräsentativ waren Jahn und seine Freunde?“ Reng verweist auf offenbar konspirative Infratest-Umfragen aus der Zeit um 1974 unter DDR-Bürgern. Mit dem Staat unzufrieden waren 45 Prozent, dem Sozialismus waren 16 Prozent zugetan (was nicht hieß, dass sie auch zum Staat standen), gegen System und Staat waren 24 Prozent.

Wie schon gesagt: Ich kannte exakt einen, der es mit der DDR hielt, einen Stasisprössling, der am Morgen nach dem Sieg auch einmal einen Grund zum Strahlen hatte. Alle anderen waren wütend und bedrückt über das 1:0 von Sparwasser. Wie Roland Jahn (bei ihm waren es Carl Zeiss Jena und Borussia Dortmund) liebte ich einen Verein im Osten und einen im Westen.

Über meinem Bett klebte ein Mannschaftsfoto von Borussia Mönchengladbach aus dem „Kicker“ und ein Bild von Netzer, meine weißen Trikots trugen die Gladbacher Raute aus Textilmalfarbe. Fußball spielte ich als Köpenicker bei Union Berlin, Union-Fan war ich auch. Mein Vorbild Reinhard „Mäcki“ Lauck lief 1974 für die DDR in Hamburg auf, zuerst nervte er Wolfgang Overath, dann Netzer. War ich stolz auf Mäcki? Meine Sehnsucht nach einer sportlichen Schmach der DDR war größer. Ich saß vor dem Fernseher in meinem Tip-und-Tap-T-Shirt mit den Maskottchen der WM und litt.

Die DDR jubelt, die ganze DDR?
Die DDR jubelt, die ganze DDR?
Quelle: picture-alliance / dpa

Gab es im Westen Fußballfans mit einem Ostverein? Es gab deutsch-deutsche Fanfreundschaften, zwischen Magdeburg und Braunschweig, Hertha und Union. Ich kenne niemanden aus München oder Köln, der für Dynamo Dresden oder für Lok Leipzig schwärmte. Ich sympathisierte grundsätzlich mit Bayer Uerdingen, wenn sie gegen Dynamo Dresden spielten wie mit Schalke gegen Magdeburg oder mit Werder Bremen gegen BFC Dynamo. Immer ging es gut aus – 1974 im Hamburger Volksparkstadion nicht, im Spiel der Spiele, Deutschland gegen DDR.

In „1974“ erzählt Ronald Reng eine Geschichte, die mit Fußball nichts zu tun hat: Während Deutschland vor dem Fernseher sitzt oder im Stadion, steht Jutta Wachowiak im Deutschen Theater auf der Bühne und spielt „Die neuen Leiden des jungen W.“ von Ulrich Plenzdorf. Ein Stück über jugendlichen Freiheitsdrang im Osten. Rengs Geschichte endet im November 1989, als Wachowiak und andere Schauspieler die größte Demo in der DDR gegen die herrschenden Verhältnisse auf dem Berliner Alexanderplatz organisiert, von Depressionen heimgesucht wird, als das Land verschwindet, auf der Bühne sagt: „Ich kann jetzt überall hin. Nur nach Hause kann ich nicht mehr“ – und, als jemand aus dem Westen das Theater übernimmt, in ein Programmheft schreibt: „Es gab nicht die geringste Neugier auf mich und auf uns.“ Der Schriftsteller Klaus Schlesinger schrieb seinerzeit, der Westen habe sich erst für den Osten interessiert, nachdem die Bodenrichtwerte ermittelt wurden.

Im Winter 2001 trafen meine Vereine, Mönchengladbach und Union, im DFB-Pokal im Halbfinale aufeinander, an der Alten Försterei in Köpenick. Ich wünschte Gladbach das Finale, was hätte Union dort auch gewollt? Noch nie jedoch hatte ich eine Mannschaft arroganter auflaufen und spielen sehen als meine Borussia. Als Union den Siegtreffer erzielte, im Elfmeterschießen, stürmte ich den Platz und feierte die Nacht durch. Seither habe ich nur noch einen Verein.

Die „Sportschau“ hat den „Ostfußball“ erfunden, den Fußball der anderen. Den Ostdeutschen gibt es seit 1990. Manchmal, wenn der „Spiegel“ an den Elbkanälen wieder einen Titel macht wie „So isser, der Ossi“, illustriert mit einem schwarz-rot-gelben Anglerhütchen, schaue ich mir an, wie Sparwasser das Tor schoss, in der 77. Minute. Croy auf Hamann, Breitner lässt ihn laufen, Sparwasser lässt Höttges stehen, Hamann spielt den Pass, Sparwasser legt sich den Ball mit der Nase vor und verlädt Maier. Purzelbaum von Sparwasser.

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Ich lese gern, wie Reng in seinem Buch die Kaiser-gegen-Kollektiv-Klischees zerschreibt: Die Popstars aus München und Mönchengladbach waren in Malente kaserniert, die Schlosser und Studenten aus dem Osten ließen es sich gut gehen in Quickborn, amüsierten sich über die Gänsefüßchen, mit denen die „Bild“ die DDR einhegte wie mit Stacheldraht, kauften den Supermarkt leer und spazierten neugierig über die Reeperbahn. Als sie gewonnen hatten, feierten sie und sangen das Lied der deutschen Nationalmannschaft: „Fußball ist unser Leben“.

Durch den Sieg wurde die DDR, in schweren Spielen gegen Argentinien, Brasilien und die Niederlande, durchgereicht. Deutschland hatte es leichter gegen Jugoslawien, Schweden, Polen und wurde am Ende Weltmeister. Ich auch. Zu meinem 50. Geburtstag vor neun Jahren hatte ich die erste Hälfte meines Lebens in der DDR verbracht, die zweite im vereinten Deutschland. Meine alten Fußballfreunde gönnten sich den Spaß und schenkten mir ein blaues DDR-Trikot mit meinem Namen und der Rückennummer 2. Getragen habe ich es nie.

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