Zum 90. Geburtstag

Wer war Susan Sontag? Über das Leben und Wirken der vielleicht glamourösesten Intellektuellen

Die amerikanische Schriftstellerin, Regisseurin und Menschenrechtsaktivistin Susan Sontag beschrieb kulturelle Phänomene, immer ihrer Zeit voraus. Am Tag, an dem Sontag ihren 90. Geburtstag gefeiert hätte, wirft VOGUE einen Blick in ihr bewegtes Leben
Susan Sontag im Jahr 1966
Susan Sontag im Jahr 1966Bob Peterson/Getty Images

Susan Sontag: Bis heute Faszination und Inspiration vieler

YOLO hätte das Lebensmotto von Susan Sontag (1933–2004) lauten können, "You only live once" – also am besten so intensiv und erfahrungshungrig wie möglich. Die auf der ganzen Welt bekannte Star-Autorin, Stilikone und Aktivistin kam der menschlichen Wunschvorstellung, mehrere Leben zu haben, bemerkenswert nahe. Sie war Essayistin, Romanschriftstellerin, Dramatikerin, Theaterregisseurin, Filmemacherin, literarischer Scout, Reisende (der beliebte Satz "I haven’t been everywhere, but it’s on my list" stammt von ihr) und seit ihrem Einsatz für den Frieden in (einstigen) Kriegsgebieten wie Vietnam und Sarajevo das moralische Gewissen der USA. Am 16. Januar 2023 wäre Sontag 90 Jahre alt geworden.

Susan Sontag in New York (1978)

Brownie Harris/Getty Images

Susan Sontag fasziniert bis heute. Jede weibliche oder queere Person, die den Wunsch verspürt, intellektuell oder künstlerisch tätig zu sein, wird mit großer Wahrscheinlichkeit früher oder später auf Susan Sontag stoßen und in ihr ein ungewöhnliches Vorbild entdecken: Eine Frau, die als alleinerziehende Mutter, queere Autorin und öffentliche Intellektuelle zu aus heutiger Sicht unvorstellbarem Ruhm gelangte. Sontag zu lesen ist immer inspirierend. Sie hatte ein intuitives Gespür für den Zeitgeist und sah, besonders in ihren Texten über Fotografie, entscheidende Verhältnisse der Gegenwart voraus – etwa die “Bildersucht” unserer von den sozialen Medien geprägten Ära. Ihre Essays wecken auf und machen Lust, auch selbst genau, kritisch und liebevoll auf unsere Gesellschaft zu blicken. 

Kindheit und Jugend in Amerika und erste Berührungspunkte mit Intellektuellen

Schon früh kam Susan Sontag mit Literatur und Glamour in Berührung. Ihre Kindheit verbrachte sie vor allem in der trostlosen Wüste Arizonas. In der tiefsten amerikanischen Provinz entdeckte das frühreife Wunderkind die Welt der Bücher und den Rausch, den Buchstaben auslösen können. Als sie dreizehn Jahre alt war, zog ihre Familie nach Los Angeles. In Kalifornien lernte sie den Glanz Hollywoods kennen, vermutlich eine prägende Erfahrung, denn Glamour sollte mit ihrer zukünftigen öffentlichen Person untrennbar verbunden sein. Größeren Eindruck als die Celebrities, die bei Filmpremieren aus ihren Limousinen stiegen, machten auf die Jugendliche allerdings die "Götter der Hochkultur", jene aus Europa geflohenen Schriftsteller:innen wie zum Beispiel Thomas Mann. Die konnte man in Südkalifornien beim Spazierengehen zwischen Zitronenbäumen, Rettungsschwimmern, Hamburger-Restaurants und Neo-Bauhaus-Architektur beobachten.

Schriftsteller Günter Grass und Susan Sontag  bei einer Konferenz an der Princeton University (1966)

Bob Peterson/Getty Images

Walter Hollerer (links) und Hans Magnus Enzensberger (rechts) neben Sontag bei einer Konferenz an der Princeton University (1966)

Bob Peterson/Getty Images

Während ihres Studiums entdeckte Sontag ihre lesbische Sexualität und entschied sich trotzdem kurze Zeit später für eine bürgerliche heterosexuelle Existenz. Die Hochbegabte studierte an den besten Universitäten der USA, zunächst in Berkeley, dann in Chicago und in Harvard. Ihre Kommiliton:innen in Chicago hielten die erst Siebzehnjährige aufgrund ihres modischen Auftretens für einen Filmstar. Ihre Professor:innen fanden, Sontag war die brillanteste Studentin, die sie jemals hatten. In der lesbischen und schwulen Barszene von San Francisco hatte Sontag erste lesbische Erfahrungen gesammelt. Dennoch heiratete sie mit 17 Jahren ihren 28-jährigen Soziologiedozenten Philip Rieff. Noch als Teenager wurde Sontag Mutter: Sie war 19, als ihr Sohn David geboren wurde. Mit beeindruckender Geschwindigkeit häufte sie Belege für heterosexuelle "Normalität" an.

Susan Sontag in Europa und das offene Ausleben ihrer Sexualität

Europa, der Kontinent, von dem ihre jüdischen polnisch-russischen Vorfahren stammten und die meisten der literarischen Werke, die sie bewunderte, war für Sontag seit ihrer Kindheit ein Sehnsuchtsort. Als David fünf Jahre alt war, erhielt Sontag ein einjähriges Stipendium an der Universität von Oxford. Endlich konnte sie nach Europa aufbrechen. Um ihren Sohn kümmerten sich in dieser Zeit die Eltern ihres Ehemannes. Sehr viel aufregender als eine weitere Elite-Universität erschien der abenteuerlustigen Studentin allerdings die französische Hauptstadt. Nach nur drei Monaten zog sie weiter nach Paris, wo sie ihre Liebe für das Savoir-vivre der Bohème – Cafés, Bars, Kinos und Betten – entdeckte. In Paris lebte Sontag offen mit einer Frau zusammen und traf die radikale Entscheidung, ihren Mann und die universitäre Welt zu verlassen. Von nun an wollte sie ein ungebundenes und unabhängiges Leben als Schriftstellerin und freie Intellektuelle
führen.

Porträt der italienischen Schauspielerin Adriana Asti und Susan Sontag

Susan Wood/Getty Images

Susan Sontags Weg zur gefeierten Autorin in New York

Kurz vor Anbruch der 1960er-Jahre war keine Stadt inspirierender für eine junge ehrgeizige Frau, die berühmt werden wollte, als New York. Direkt nach ihrer Rückkehr in die USA reichte Sontag die Scheidung ein und ging gemeinsam mit ihrem Sohn in die Metropole am Hudson River. Sie arbeitete zunächst als Redaktionsassistentin und hatte wenig Geld. In New York entschädigte die unübertroffene Dichte an künstlerischem Talent für das harte Leben als alleinerziehende Mutter. Sontag ging jeden Abend aus, auf die angesagtesten Partys, ihr Sohn sei auf den Mänteln dieser Partys aufgewachsen, erzählte sie später gerne. Sie besuchte experimentelle Theater- und Filmvorführungen, war bald Teil der Avantgarde-Kunstszene und verliebte sich in Frauen und Männer. 

Für renommierte intellektuelle Zeitschriften schrieb sie über die neuen ästhetischen Erfahrungen, die sie in diesen Jahren machte. Unerhört für eine Intellektuelle war es derzeit, dass sie auch für die amerikanische VOGUE schrieb, schon damals ein viel gelesenes Magazin, das bessere Honorare als die kleinen elitären Zeitschriften zahlte. In VOGUE schrieb Sontag über Schönheitsideale, über ihre Erfahrungen als Filmemacherin in Schweden und Israel, über Tanz und Feminismus. Das trug rasch zu ihrer Bekanntheit bei. Sontag widmeten sich in ihren Texten besonders dem Neuen, das sie in New York beobachtete: Pornografie, Science-Fiction-Filme, Performancekunst. Als eine der ersten schrieb sie über Camp, jene spielerische Freude am Kitsch, damals ein Geheimcode schwuler Subkulturen in New York, Paris oder London, der nur für Eingeweihte verständlich war. 

Mit ihrem Text "Notes on 'Camp'" wurde Sontag 31-jährig über Nacht berühmt. Dass sie ein Phänomen der populären Kultur ernst nahm und ihr an der Universität erworbenes Wissen zu seiner Analyse anwendete, war im Jahr 1964 revolutionär. Mit ihrem Essay verhalf sie der queeren Camp-Ästhetik in den Mainstream. Sontag wurde zum Inbegriff von Coolness, zur hippen Verkörperung des Zeitgeists. Sie faszinierte sowohl durch ihren scharfen Geist als auch durch ihr besonderes Charisma und ihre ungewöhnliche Schönheit. Das entging auch Andy Warhol nicht, der Sontag für seine Screen Tests, jene Serie von kurzen Porträtfilmen über Persönlichkeiten, die für ihn den Glamour der 1960er-Jahre verkörperten, vor die Kamera holte. Sontags Botschaft, eine Aufforderung zu mehr Sinnlichkeit im Umgang mit Kunst, passte perfekt zum sexuell aufgeladenen Klima der Sixties: "Wir müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören und mehr zu fühlen", schrieb sie in ihrem berühmten Essay "Gegen Interpretation".

Susan Sontag arbeitet an ihrem Schreibtisch, um 1971

Photo Researchers/Getty Images

Noch mehr Ruhm erlangte Sontag Ende der 1970er-Jahre mit ihrer Essaysammlung über Fotografie. In vieler Hinsicht waren ihre Gedanken zur Fotografie prophetisch. Sontag stellte schon 1977 unseren “zwanghaften Drang” fest, alles zu fotografieren und nur als Erfahrung gelten zu lassen, was sich auch auf einem Foto wiederfindet. Sie schrieb: "Eine Erfahrung zu machen, wird schließlich identisch damit, ein Foto zu machen". Darin klingt schon das Zeitalter der sozialen Medien an und ihr Mantra: "Pics or it didn't happen". Lange vor Instagram und eines Phänomens wie Foodporn erkannte Sontag: "Heute ist alles dazu da, auf einem Foto zu landen." Sie warnte auch vor der Gefahr, uns durch technisch manipulierte Fotos täuschen zu lassen – eine Warnung, die heute durch Deepfake, die Manipulierung von Bildern durch Künstliche Intelligenz, eine neue
Dringlichkeit erhalten hat.

Jeanne Moreau, Susan Sontag, Yoko Ono und John Lennon 1971 bei den Filmfestspielen in Cannes

WWD/Getty Images

Setsuko Klossowska de Rola, Umberto Eco und Susan Sontag in Italien

Leonardo Cendamo/Getty Images

Fotografie hing für Sontag eng mit Gewalt und Krieg zusammen. Ihrem Interesse an fotografischen Darstellungen des Leidens blieb sie bis zum Ende ihres Lebens treu: “Das Leiden anderer betrachten”, ihr letztes Buch aus dem Jahr 2003, ein Text von unübertroffener Aktualität, hinterfragt kritisch, wie wir auf Bilder von Kriegsopfern reagieren. Angesichts immer neuer Kriege, die unseren Newsfeed mit Bildern des Grauens überschwemmen, lohnt es sich, Sontags kluges Buch, das auch eine Ethik des Sehens enthält, wieder oder auch erstmals in die Hand zu nehmen.

Susan Sontag und Annie Leibovitz: Eine Liebe zwischen der meistfotografierte Intellektuellen und der berühmtesten Fotografin der USA

Die Fotografin Annie Leibovitz war Sontags letzte Liebe. Mit ihr unternahm sie ausgedehnte Reisen, nach Jordanien, Ägypten, Italien und Japan. Ihre Verbindung hatte schon zu Lebzeiten etwas Legendäres: Sontag, die meistfotografierte Intellektuelle des 20. Jahrhunderts und eine der meistzitierten Fotografietheoretiker:innen des 20. Jahrhunderts, ging ab Ende der 1980er-Jahre ausgerechnet mit der berühmtesten Fotografin der USA eine Beziehung ein, die bis zu ihrem Tod hielt.

Etwas Außergewöhnliches gelang Sontag, nachdem sie mit 42 Jahren an Brustkrebs im fortgeschrittenen Stadium erkrankte: Sie verarbeitete diese Erfahrung in dem 1978 erschienenen Essay “Krankheit als Metapher” (allerdings ohne ihre persönliche Geschichte zu erzählen) und beeinflusste damit Menschen auf der ganzen Welt, Behandelnde wie Erkrankte, deren Blick auf den Krebs sich nach der Lektüre des Textes veränderte. Sontags Essay ist ein Plädoyer dafür, den Krebs von allem metaphorischen Ballast zu befreien, ihn nicht als Schuld oder persönliches Versagen zu betrachten, sondern schlicht als eine ernste, nicht zwangsläufig tödliche Krankheit. Sontag ging es um einen aufgeklärten Umgang mit der Krankheit, darum, diese so gut wie möglich zu verstehen und entschlossen nach der geeigneten Therapie zu suchen. Mit der Entscheidung für die radikalste Form der Therapie überlebte Sontag selbst zwei schwere Krebserkrankungen. Bei ihrer dritten Krebsdiagnose war die Lage von Anfang an hoffnungslos. Sontag, die sich die Welt nicht ohne ihre Anwesenheit vorstellen und sich mit der Tatsache der eigenen Sterblichkeit nicht aussöhnen konnte, kämpfte bis zuletzt. Sie starb am 28. Dezember 2004 in New York. Ihr Sohn und ihre engsten Freund:innen waren anwesend.

Porträt der amerikanischen Autorin und Kritikerin Susan Sontag in ihrer Wohnung  (1989)

New York Times Co./Getty Images

Angesichts der vielfältigen Krisen unserer Gegenwart fehlt Sontags Stimme sehr. Sie ließ sich nie von einem Gefühl der Wut oder Empörung leiten. Sontag nahm mit allen Sinnen wahr, ohne sich von Erregung überwältigen zu lassen. Sie urteilte moralisch, ohne sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen. Gefühle betrachtete sie als etwas, das es zu erklären galt. Gerade diese unsentimentale Haltung, ihr nüchterner und analytischer Blick auf Kultur und Politik macht sie heute so attraktiv. Nicht zuletzt zeigen ihre posthum veröffentlichten Tagebücher Sontags menschliche Seite: wie unglücklich sie oft war, wie sie mit sich und ihrem Körper haderte und wie sehr sie dennoch das Leben liebte. 

Dr. Anna-Lisa Dieter ist promovierte Romanistin und Ausstellungskuratorin im BIOTOPIA-Naturkundemuseum Bayern. Im November 2022 erschien ihr Buch “Susan Sontag. 100 Seiten” im Reclam Verlag. 

Zu Ehren des 90. Geburtstags von Susan Sontag findet am Dienstag, 17. Januar im Literaturhaus München der Abend “Forever Susan Sontag” mit u.a. Anna-Lisa Dieter statt. 

Anna-Lisa Dieter

FABIAN FRINZEL

"Susan Sonntag. 100 Seiten"

Reclam
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