Sport & Gesellschaft

"Eine Fahne ist einfach immer politisch": Zur Europameisterschaft 2024 spricht ein Experte über Euphorie, Patriotismus und ein mögliches zweites Sommermärchen

Heute startet die Fußball-Europameisterschaft der Herren in Deutschland. Das bringt die Sehnsucht nach der Stimmung der letzten Heim-WM im Jahr 2006 auf: Euphorie, Zusammengehörigkeit und Deutschland-Flaggen ohne rechten Unterton. Ist das auch 2024 möglich?
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Max Muench

Europameisterschaft 2024: VOGUE spricht mit dem Sportsoziologe Dr. Sven Ismer über die möglichen Auswirkungen der Heim-EM.

Schwarz-Rot-Gold überall: an Balkonen und Außenspiegeln, auf Haiwaiiketten und Vuvuzelas, auf Stirn und Wangen der Fans. Menschen schwingen Deutschlandfahnen aus Autodachfenstern, Kinder tragen Trikots der Nationalmannschaft Tag und Nacht. Das sind die Bilder, die uns vom Sommermärchen 2006 in Erinnerung blieben, als die Fußball-WM der Herren in Deutschland stattfand. Fan-Utensilien in den Nationalfarben waren damals omnipräsent – und symbolisierten einen ausgelassenen und fröhlichen Patriotismus. Bei der diesjährigen Europameisterschaft ist Deutschland nun wieder Gastgeber, doch seit 2006 hat sich im Land viel verändert. In der Großstadt, auf dem Land, in fast jeder Bildungsschicht. Die Gesellschaft ist stark gespalten, die AfD laut aktuellen Umfragen des Allensbach-Instituts die zweitstärkste Partei. Sie instrumentalisiert bei jeder sich bietenden Gelegenheit Schwarz-Rot-Gold für ihre Zwecke. Die Politiker:innen der Partei tragen die Farben an Krawatten im Landtag; Rechtsextremist:innen in ostdeutschen Städten marschieren mit Deutschlandfahne und antidemokratischen Parolen durch die Straßen. Doch deren Gedankengut ist nicht mehr nur eine Randerscheinung: Die Ende 2023 veröffentlichte Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung dokumentierte, dass in der gesamten deutschen Gesellschaft im Vergleich zu 2014 eine sichtbare und deutliche Verschiebung nach rechts stattfand. Gerade die Mitte wird zunehmend empfänglich für demokratiefeindliche Einstellungen. Jede zwölfte Person in Deutschland teilt mittlerweile ein rechtsextremes Weltbild, während ganze 16 Prozent negativ gegenüber "Ausländern" eingestellt sind – das sind fast doppelt so viele wie noch zehn Jahre zuvor. Und damit ist Deutschland nicht allein. Diese zunehmenden nationalistischen Tendenzen zeigen sich auch in anderen europäischen Ländern wie Frankreich, Italien, Ungarn, Österreich oder Großbritannien.

Im VOGUE-Interview spricht Sportsoziologe Dr. Sven Ismer über Euphorie, Patriotismus und Nationalismus im Zuge der Europameisterschaft 2024

VOGUE: Herr Dr. Ismer, während der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland im Jahr 2006 malten sich viele eine Deutschlandflagge ins Gesicht oder hängten eine Fahne ans Auto. Denken Sie, das werden wir auch bei der diesjährigen Heim-EM sehen?

Dr. Sven Ismer: Die Fußball-WM 2006 hat das erstmals überhaupt möglich gemacht. Davor, zum Beispiel bei der WM in Deutschland 1974, war so eine kollektive Schwarz-Rot-Gold-Euphorie absolut nicht üblich, und es war damals nicht okay, sich so zu verhalten. Diese Gefühlsregel, wie wir das in der Soziologie bezeichnen, hat eigentlich erst die WM 2006 geändert – und zwar nachhaltig. Ich glaube nicht, dass jede Person, die sich in diesem Jahr eine Deutschlandfahne ins Gesicht malt, deswegen von der Allgemeinheit in die rechte Ecke geschoben wird. Es ist ja vielmehr so, dass es die Allgemeinheit tut – sich diese Fahne ins Gesicht malen und an die Autos pinnen und an die Balkone hängen. Das ist keine Minderheit, sondern eine riesengroße Gruppe in der Bevölkerung. In der Minderheit sind eher diejenigen, die sich dem patriotischen Taumel entziehen möchten.

Könnte die Europameisterschaft 2024 ein zweites Sommermärchen werden?

Könnte dieselbe Euphorie wie beim Sommermärchen 2006 wieder aufflammen?

Ehrlich gesagt, kann ich es mir durchaus vorstellen, dass diese Euphorie aufflammen wird. Natürlich hängt das bei so einer Sportveranstaltung auch davon ab, wie das Ganze sportlich läuft. Wenn die deutsche Mannschaft in der Vorrunde ausscheidet, dann wird auch die Euphorie nicht so intensiv daherkommen.

Wie sieht gesunder Patriotismus aus?

Das ist eine gute Frage. Ich bin mir nicht sicher, ob es das gibt. Wenn Patriotismus so gelesen werden könnte, dass es nur um die Identifikation mit den demokratischen Wertvorstellungen geht, dann ließe sich das am ehesten als "gesunder" Patriotismus bezeichnen. In der Praxis würde ich aber bezweifeln, dass das so einfach geht. Patriotismus vermischt sich immer mit Ausgrenzung.

Wo fängt Ausgrenzung an?

Die starke emotionale Aufladung von kollektiven Identitäten geht eigentlich immer mit einer Abgrenzung nach außen einher – dem sogenannten Othering, also der "Veranderung" des Gegenübers. Je mehr sich die Leute über so eine symbolische Kategorie wie Nation und nationale Zugehörigkeit identifizieren, die durch nationale Symbole noch befeuert wird, desto stärker wird auch die Abgrenzung nach außen. Mit dem Unterstreichen von "Ich gehöre zu dieser Gruppe" geht auch immer ein Stück weit die Frage "Wer gehört eigentlich alles nicht dazu?" einher. Das kann man dann an unterschiedlichen Merkmalen festmachen – ob das die Hautfarbe oder die religiöse Zugehörigkeit ist oder andere Merkmale sind, die eine stärkere Abgrenzung nach außen verdeutlichen.

Inwiefern könnte der sportliche Erfolg der Mannschaft zu einem Gefühl der Einigkeit in der Gesellschaft beitragen?

Da gibt es sicherlich eine nicht zu unterschätzende symbolische Kraft des Fußballs. Das war schon bei den alten Römer:innen so: Gebt dem Volk Brot und Spiele, und dann sind sie zufrieden. Solche Spiele sind schon seit 2000 Jahren für ihre Wirkmächtigkeit bekannt, und das lässt sich, denke ich, auch auf den Fußball übertragen – vor allem, wenn so ein Turnier erfolgreich verläuft und zu Hause stattfindet, wo alle ein bisschen daran teilhaben können. Dass die Unterstützung der Bevölkerung die Mannschaft dann von Sieg zu Sieg tragen kann, wird auch in der Berichterstattung immer betont. Das kann natürlich zu einem Zugehörigkeitsgefühl führen, was auch andere Spaltungen in der Gesellschaft – zumindest für eine Weile – übertüncht. (Dr. Ismer macht eine nachdenkliche Pause)

Ob man das will oder ob man lieber über diese Spaltung und die Gründe für diese Spaltung und die Unterschiedlichkeiten in der Gesellschaft eine Debatte führen und schauen möchte, was wir tun können, um gesellschaftliche Teilhabe für alle Menschen zu ermöglichen, anstatt nur auf einer emotionalen Ebene Zugehörigkeit zu konstruieren, ist eine andere Frage. Ob beides geht oder das eine das andere befördern kann, ist auch noch mal eine weitere Frage.

Könnte auch das Gegenteil der Fall sein? Also könnte eine Niederlage der Mannschaft zu einer noch stärkeren Spaltung der Gesellschaft führen?

Es gibt in der Sportpsychologie das sogenannte "CORFing"-Phänomen, "cutting off reflected failure". Wenn die Mannschaft, mit der man sich identifiziert, nicht die Leistungen zeigt, die man sich erhofft hat, dann schwindet auch schnell die Identifikation – zumindest für eine Weile. Dann wenden sich die Leute ab und sind einfach frustriert. Spaltung und Ausgrenzungen werden dann ein Thema, wenn Sündenböcke für den Misserfolg gesucht werden.

Es stellt sich dann die Frage, welche Diskurse rund das Thema Fußball gesponnen werden. In den letzten nahezu 20 Jahren hat es durchaus Veränderungen gegeben, wer eigentlich in der Nationalmannschaft spielt. Wenn ich jetzt die Nationalmannschaft von 2002 mit der von 2010 vergleiche, wo im Halbfinale 2010 von der Startelf sechs Spieler einen Migrationshintergrund hatten, sieht man, dass sich im Hinblick auf die Frage, wer eigentlich die Nation symbolisiert, wer eigentlich der Körper der Nation ist, einiges geändert hat. Wenn dieser Körper nicht nur aus biodeutschen Menschen besteht, sondern sehr divers ist, kann ich mir vorstellen, dass das etwas mit der Vorstellungswelt der Menschen macht. Positiv daran würde ich bewerten, dass deutsch dann nicht mehr zwingend weiß sein muss.

Dann ist es allerdings auch schnell so, dass unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden. Wenn verloren wird, wird das plötzlich darauf zurückgeführt, dass einige Nationalspieler vielleicht nicht die Nationalhymne mitgesungen haben oder muslimische Nationalspieler gebetet haben. Es werden von Teilen der Gesellschaft andere Forderungen an Spieler mit Migrationshintergrund gestellt – ihre Zugehörigkeit ist stets prekär und wird schnell infrage gestellt.

Welche Auswirkungen könnte die Europameisterschaft 2024 auf den Rechtsruck in Deutschland haben?

Laut aktuellen Umfragen ist die AfD die zweitstärkste Partei in Deutschland. Diese Partei gab es bei der WM 2006 noch gar nicht. Könnte die diesjährige EM die Stärke der AfD zusätzlich beflügeln?

Das ist schwer zu beantworten. Ich glaube schon, dass die WM 2006 ihren Teil dazu beigetragen hat, dass es eine langfristige Legitimierung von eher nationalistischen, in der Tendenz rechten Positionen gegeben hat. Dass die WM 2006 damals dazu geführt hat, dass sich die Norm von "Was gehört sich eigentlich? Und was gehört sich nicht?" verschoben hat. Dass es einfach normaler geworden ist, sich patriotisch zu geben, und auch dazu beigetragen hat, dass sich plötzlich niemand mehr schämt, eine Partei wie die AfD zu wählen. Ich glaube aber, der Drops ist gelutscht. Ich kann nicht sagen, ob die diesjährige EM die ohnehin schon schlimme Situation möglicherweise noch verschlimmert. Ich will es nicht hoffen.

Laut aktuellen Umfragen der Friedrich-Ebert-Stiftung verharmlosen vier Prozent der Bevölkerung den Nationalsozialismus, doppelt so viele wie noch vor zehn Jahren. Bei AfD-Wähler:innen liegt die Zahl sogar bei knapp 15 Prozent. Welchen Einfluss hat die Erbschuld heute noch auf den deutschen Patriotismus?

Ich denke, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus dazu geführt haben, dass es über eine lange Zeit eine vermutlich mehrheitsfähige Position in Deutschland gab, die gesagt hat, mit Nationalismus oder Patriotismus muss vorsichtig umgegangen werden. Dieser Nationalismus in Deutschland im 20. Jahrhundert war ja nicht nur – nur in Anführungsstrichen – für den Holocaust und den Tod von sechs Millionen Menschen in den Konzentrationslagern verantwortlich, sondern auch für die Zerstörung des eigenen Landes und die Verwüstung von halb Europa. Diese breite Mehrheit gibt es meiner Ansicht nach jetzt nicht mehr. Das ist eine Situation, die es nötig macht, neue Debatten darüber anzustoßen – gerade in einem Europa, in dem rechte beziehungsweise rechtsextreme Parteien an allen Ecken und Enden immer größer und immer stärker werden.

Wodurch könnte sich die Gesellschaft von dieser Schuld erholen? Ist das überhaupt möglich?

Sie und ich, wir sind zu spät geboren, um irgendetwas dagegen hätten tun zu können, was im Dritten Reich geschehen ist. Dennoch finde ich es notwendig, das Geschehene immer noch präsent zu halten. Das finde ich aber auch nicht schlimm. Ich möchte nicht irgendwann einen Schlussstrich ziehen und sagen: Das hat mit meiner politischen Identität oder mit mir nichts zu tun. Ich finde es wichtig, in Erinnerung zu halten, was Nationalismus oder eine übersteigerte kollektive Identität, die den Sündenbock bei irgendwelchen anderen Gruppen für das sucht, was gerade nicht gut läuft, bewirken kann. So was ist ein Mahnmal, bei dem es überhaupt keinen Sinn ergibt, damit abzuschließen. Wo es immer sinnvoll ist, die Geschichte auf eine Art und Weise lebendig zu halten und sich mit ihr auseinanderzusetzen, sodass man auf keinen Fall jemals vergisst, was geschehen ist. Und auch, um zu verhindern, dass so etwas noch mal geschehen kann.

Eine Studie von Julia Becker, die während der EM 2012 durchgeführt wurde, zeigte, dass die Zahl der Flaggen, die jemand mit sich trägt, mit den Vorurteilen und Nationalismus korreliert – allerdings nur bei jenen Personen, die sowieso schon nationalstolz waren. Im Jahr 2018 sagte Robert Habeck der "Süddeutschen Zeitung", er wolle sich die Fahnen nicht von den Rechten nehmen lassen. Wie kann man also die Spiele verfolgen und sich angemessen verhalten?

Dass da eine Unsicherheit da ist und sich darüber Gedanken gemacht wird in Zeiten, wo es eine immer stärker werdende rechte Partei gibt und einen immer stärkeren Nationalismus, der damit aufkommt, finde ich erst mal erfreulich. Ich finde, dass Menschen das tun sollten, was sie für richtig halten, aber zugleich sollten sie sich auch Gedanken darüber machen. Natürlich darf man sich eine Fahne ins Gesicht malen. Andersherum könnte man aber auch fragen: Warum sollte man das tun? Was wird damit zum Ausdruck. gebracht? Man kann natürlich sagen: Das Einzige, was ich damit zum Ausdruck bringen möchte, ist, dass ich meine Mannschaft unterstütze. Ich möchte Spaß dabei haben, das Fußballspiel zu gucken, und ich identifiziere mich mit der Mannschaft, und das hat mit irgendwas anderem gar nichts zu tun. Die Frage ist nur: Ist es überhaupt möglich, die politische Dimension des Fußballs auszublenden? Ich persönlich denke: Eine Fahne ist einfach immer politisch.

Sollte man auf Schwarz-Rot-Gold verzichten wollen – wie könnte man die deutsche Nationalmannschaft alternativ anfeuern?

Mal abgesehen von der Nationalflagge: Welche anderen Symbolismen gibt es rund um das Thema Fußball?

Sie können natürlich trotzdem zu irgendwelchen Großveranstaltungen gehen und da singen und jubeln. Bei dem Turnier in Katar 2022 fand ich diese ganze Diskussion über die Mannschaftsbinde mit den Regenbogenfarben von Manuel Neuer ganz spannend. Ich fand das einfach schön, dass die Nationalmannschaft, wenn sie schon politisch sein muss, nicht nur für die Nationalfarben eingetreten ist, sondern auch für Toleranz und Offenheit und Menschenwürde, die mit dieser Regenbogenflagge verbunden werden können. Ab dem Moment, in dem sie sportlich nicht erfolgreich war, wurde ihnen das – also dass sie sich irgendwelche Dinge zu eigen gemacht hat, die jetzt nicht ihr Kerngeschäft sind – dann auf Deutsch gesagt "aufs Butterbrot geschmiert".

Das fände ich aber eine gute Idee für Fans. Warum sollen die nicht auch mit einer Regenbogenfahne anstatt mit einer schwarz-rot-goldenen Fahne zum Public Viewing gehen? Das wäre doch ein starkes Statement für eine offene Gesellschaft.

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