Gastbeitrag

Die Türkei bei der Fußball-EM: Die Kunst, alle Sympathien zu verspielen

Türkische Fans zeigen im Berliner Olympiastadion den Wolfsgruß: Geflüchtet in die Opferrolle?

Türkische Fans zeigen im Berliner Olympiastadion den Wolfsgruß: Geflüchtet in die Opferrolle?

Hannover. Vier Wochen lang hatte die türkische Fußball-Nationalmannschaft ihr EM-Quartier in Barsinghausen aufgeschlagen. Empfangen wurde das Team mit Begeisterung und Jubel, sportlich sorgte die Mannschaft bis zum Ausscheiden im Viertelfinale gegen die Niederlande für Furore. Nach der Abreise der Türken bleiben vor allem Irritationen zurück: über den Wolfsgruß des Spielers Merih Demiral im Achtelfinale gegen Österreich, eine politische Geste türkischer Ultranationalisten, mit der er sein zweites Tor bejubelte, und über die aufgeladenen Reaktionen der Türken nach der folgenden Sperre für Demiral.

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Dursun Tan, Soziologe und langjähriger Referatsleiter für Migration und Integration der niedersächsischen Landesregierung, hat türkische Fans in ihrer Heimat und in Deutschland beobachtet, das Verhalten der Offiziellen analysiert und findet: Die EM ist zu einem Politikum umgedeutet worden. Sein Fazit: Fans wie Offizielle haben ihrem Land einen Bärendienst erwiesen.

Gastbeitrag von Dursun Tan: Eine Chance vertan

In der Türkei wird gerne das Narrativ gepflegt, dass Türken abgesehen von anderen Türken keine Freunde haben, ähnlich wie das bayerische „mia san mia“: Die gesamte Welt ist gegen uns. Wenn das so ist, möchte man dem am liebsten entgegenschreien: Ja, Herrschaften, aber ihr tut ja auch alles dafür, dass das so bleibt!

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Die Fußball-Europameisterschaft wäre eine gute Gelegenheit gewesen, etwas an diesem Bild zu ändern. Mit Menschen aus anderen Ländern zusammenzukommen, neue Bekanntschaften und Freundschaften zu schließen, mit ihnen zu feiern und sich der Welt von seiner Schokoladenseite zu zeigen. Zwar gab es auch diese Momente, doch sie prägten nicht das Gesamtbild. Stattdessen haben die türkische Mannschaft und der Großteil ihrer Fans sich dafür entschieden, die EM zu einer Art Krieg mit sportlichen Mitteln zu erklären.

Zur Person: Dursun Tan

Dursun Tan ist Soziologe und Sozialpsychologe und ehemaliger Referatsleiter für Grundsatzfragen und Koordinierung der Migration und Teilhabe in der niedersächsischen Staatskanzlei. Geboren wurde er 1960 in der Türkei, seit 1970 lebt er in Deutschland. Tan hat Politikwissenschaften, Soziologie, Sozialpsychologie und Wirtschaft an der Uni Hannover studiert, nach seiner Promotion zum Dr. phil. lehrte er an den Universitäten Hannover und Oldenburg, später wechselte er in den Fachbereich Jugend und Familie der Landeshauptstadt Hannover. Von 2010 bis 2023 war Tan dann Referatsleiter für Migration und Integration – zunächst im niedersächsischen Sozialministerium, ab 2013 dann in der Staatskanzlei.

Das konnte ich schon zu Beginn des Turniers an der Westküste der Türkei beobachten, wo ich die Spiele der Gruppenphase verfolgt habe. Bei den Partien der türkischen Mannschaft waren die Cafés voll mit Fans, die Stimmung vor den Fernsehgeräten war aufgeladen: Fangesänge, Schimpfen, Brüllen, Fluchen, Zittern, überschwängliche Freude und Frustration wechselten sich ab. An vielen Stellen wurde der Satz zitiert: „Ihr seid viele, wir aber Türken!“ Hier ging es längst nicht mehr nur um Fußball. Der Kampf auf dem Rasen stand stellvertretend für den Kampf gegen den Westen oder die „Gavurs“, die Ungläubigen, denen man eine Lektion erteilen wollte.

Türkische Fans in Istanbul: Lektion für die Ungläubigen?

Türkische Fans in Istanbul: Lektion für die Ungläubigen?

Für die Spiele der anderen Mannschaften interessierte sich dagegen kaum jemand. Dann waren die Cafés in der Regel leer oder mit kartenspielenden Rentnern gefüllt. Aus den Fernsehgeräten an der Wand plätscherte entweder langweilige Musik oder es redeten irgendwelche Experten in Talkshows über die Inflation in der Türkei.

Wolfsgruß von Merih Demiral: Kaum Kritik von türkischer Seite

Nach der Gruppenphase sah ich die Spiele der türkischen Mannschaft auf der Fanmeile einer norddeutschen Kleinstadt. Dabei beobachtete ich das Verhalten der türkischen Fans und verfolgte die Diskussion um den Wolfsgruß des türkischen Spielers Merih Demiral im Spiel gegen Österreich. Ausgerechnet Demiral, möchte man sagen: seine Mutter eine Bosnierin, sein Vater ein Schwarzmeer-Lase, seine Frau eine in der Schweiz lebende Kosovo-Albanerin mit dem Vornahmen Heidi. Er verdient sein Geld in einer saudi-arabischen Mannschaft, nach Stationen in Portugal und Italien. Obwohl er von so viel Internationalismus und Kosmopolitismus geprägt ist, wählte er zum Jubeln das Zeichen türkischer Ultranationalisten.

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Torjubel mit Wolfsgruß: Ausgerechnet Demiral.

Torjubel mit Wolfsgruß: Ausgerechnet Demiral.

Ich will dem Torschützen unterstellen, dass ihm die Tragweite der Bedeutung dieser Geste nicht ganz bewusst war. Doch statt das in den Interviews nach dem Spiel einfach zu sagen, reagierte er trotzig: Er hoffe, die Geste noch öfter zeigen zu können.

„Die türkischen Zeitungen von nahezu links bis rechts sprachen von Rassismus und witterten in den Sanktionen der UEFA eine tief sitzende Türkenfeindlichkeit und eine Verschwörung gegen die Türkei.“

Dursun Tan

Von Einsicht war wenig zu spüren, das gilt nicht nur für Demiral, sondern auch für Funktionäre, Politiker, Journalisten und Künstler in den Medien. Und das habe ich auch bei türkischen Fans in Deutschland erlebt. Kaum einer nahm kritisch Stellung zu Demirals Verhalten, der durch die Sperre seine Mannschaft letztlich auch sportlich in Bedrängnis brachte.

Die deutsche Gesellschaft hätte mehr Offenheit honoriert

Stattdessen erklärten türkische Politiker bis hin zu den Medien den Grauen Wolf zum Nationalmythos, um der UEFA-Sanktion zu entgehen. Dazu wurde sogar der in der Türkei beliebte und weltweit anerkannte Historiker Ilber Ortayli bemüht, der den Grauen Wolf zum wichtigen Symbol aller Türken erklärte, um so Demirals Verhalten nachträglich zu legitimieren, wenn auch erfolglos. Die türkischen Zeitungen von nahezu links bis rechts sprachen von Rassismus und witterten in den Sanktionen der UEFA eine tief sitzende Türkenfeindlichkeit und eine Verschwörung gegen die Türkei.

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„Statt Sympathien zu gewinnen, brüsten sich die Türken damit, den Europäern Angst eingejagt zu haben. Man redete von der dritten Belagerung Wiens nach dem Sieg gegen Österreich, vom Erzittern der Erde, wenn die Türken sich auf den Weg ins Stadion begaben.“

Dursun Tan

Das ist ein altbekanntes Muster, das man nicht ernst nehmen müsste, würde es nicht in der türkischen Community verfangen. Und gerade die türkischen Fans in Deutschland hätten alle Möglichkeiten gehabt, die EM zu nutzen, um ein positiveres Bild von sich und der Türkei zu zeichnen. Die deutsche Gesellschaft hätte das honoriert, insbesondere der liberale und linksalternative Teil der Gesellschaft, der sich sehnlichst wünscht nachzuweisen, dass eine Gesellschaft der kulturellen Vielfalt gut funktioniert.

Fans und Mannschaft flüchten sich in die Opferrolle

Doch türkische Mannschaft und türkische Fans haben sich lieber dazu entschlossen, sich in die Opferrolle zu begeben. So lässt sich weiterhin alles, was schiefgeht, auf Türkenfeindlichkeit oder Islamophobie schieben. Vor allem aber muss man sich nicht die Frage stellen: Was haben wir eigentlich getan, um das zu ändern?

Abreise der türkischen Nationalmannschaft auf dem Flughafen Hannover: Zurück bleiben Irritationen.

Abreise der türkischen Nationalmannschaft auf dem Flughafen Hannover: Zurück bleiben Irritationen.

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Statt Sympathien zu gewinnen, brüsten sich die Türken damit, den Europäern Angst eingejagt zu haben. Man redete von der dritten Belagerung Wiens nach dem Sieg gegen Österreich, vom Erzittern der Erde, wenn die Türken sich auf den Weg ins Stadion begaben. Die türkische Presse zitiert einen Abwehrspieler, der selbst mit einer Afrikanerin verheiratet ist, mit den Worten, er bereite sich mit Janitscharenmusik auf die Spiele vor, und wenn er den Rasen betrete, schreite er wie zum Schlachtfeld. Dazu muss man wissen: Bei der Janitscharenkapelle handelt es sich um die Militärkapelle des Osmanischen Reichs, die den Truppen bei ihren Feldzügen voranging. Durch laute Schalmei, Rassel und Trommel sollte der Kriegsgegner eingeschüchtert und den eigenen Truppen zum Sieg verholfen werden.

Ein kluger Philosoph sagte einmal: Das Bild einer Nation wird nicht dadurch bestimmt, wie sie sich selbst sieht, sondern wie andere sie sehen. Schade, da wurde eine Chance verpasst.

Güle güle, Türkiye, auf Wiedersehen. Und vergesst bitte nicht, die Janitscharenkapelle mitzunehmen.

Dieser Text erschien zunächst bei der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“.

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