Experten-Einschätzungen

Nach EU-Wahlen: „Im Kreml wird man über die Ergebnisse sehr verärgert sein“

Die Fahnen der Ukraine und der EU wehen im Wind: Auch die EU kann auf Zeit spielen und das sehr erfolgreich, sind sich einige Experten einig.

Die Fahnen der Ukraine und der EU wehen im Wind: Auch die EU kann auf Zeit spielen und das sehr erfolgreich, sind sich einige Experten einig.

Berlin. Ein Wahlsieg der Rechtsnationalen in Frankreich und ein Stimmenzuwachs bei der AfD in Deutschland: die Wahl zum Europäischen Parlament hat rechte Parteien in vielen Teilen Europas gestärkt. Mit ihren oft pro-russischen Einstellungen sind sie von besonderem Interesse für den Kreml. Wie nimmt Wladimir Putin also die Wahlergebnisse wahr? Fünf Experten erklären, was die Wahlergebnisse für Russland bedeuten.

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Reaktionen aus dem Kreml

Alexey Yusupov ist Leiter des Russlandprogramms bei der Friedrich-Ebert-Stiftung. Er sagt, das offizielle Russland sei zwar zufrieden mit den Wahlergebnissen, aber triumphale Töne würde er nicht aus Moskau hören. Kremlsprecher Dmitry Peskov etwa habe im Anschluss an die Wahl gesagt, rechte Parteien seien den regierenden Parteien „auf den Fersen“.

Grundsätzlich könne man zwei Narrative ausmachen, sagt Yusupov: Zum einen sei der Kreml der Auffassung, es habe das vermeintlich „wahre Volk“ Deutschlands und der EU gesprochen. Die Wahl sei nicht nur ein Denkzettel an die Regierenden Europas, sondern eine Demokratie müsse auch damit leben können, dass die Menschen ihre „wahre“ Meinung zum Ausdruck bringen: „Das ist ein propagandistischer Spin, der darauf abzielt, das eigentliche Interesse der Deutschen sei es, Druck auf Kiew auszuüben, zu einem Deal unter den ‚Großen‘ zu kommen und sich nicht länger an das Völkerrecht und Selbstbestimmungsrecht der Länder zu halten“. So behaupte es beispielsweise Marat Baschirow, der Leiter der staatlichen russischen Nachrichtenagentur TASS.

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Dan Storyev, ein russischer Analyst aus Oxford und Leiter der Menschenrechtsorganisation OVD-Info, hat Ähnliches beobachtet: „Der Kreml nutzt die Wahlergebnisse, um das eigene Narrativ zu verkaufen, die Unterstützung der Ukraine sei unbeliebt in der EU“, sagt er. Nichtsdestotrotz ist er der Meinung, dass Russland nicht viel gewonnen habe bei der Wahl: „Die Parteien der Mitte sind immer noch die stärksten. Die Reaktionen, die aus dem Kreml kommen, dienen in erster Linie innenpolitischen Zwecken.“

„Russland nutzt die Wahl und bläht sie zu etwas auf, was nicht passiert ist.“

Ian Garner, Historiker und Analyst

Die Propaganda an die eigene Bevölkerung erkläre, Europa folge Russland darin, sich wieder auf traditionelle Werte zu besinnen: die Ehe nur zwischen Mann und Frau, Familie, Vaterland und Patriotismus.

Für Ian Garner ist es wichtig, zu sehen, wie Russland grundsätzlich mit Wahlergebnissen umgeht. Der Historiker und Analyst am Warschauer Pilecki-Institut sagt, dass der Rechtsruck im Europäischen Parlament unbestreitbar ist, ermahnt aber dazu, nicht alles, was Russland sagt, für bare Münze zu nehmen: „Russland nutzt die Wahl und bläht sie zu etwas auf, was nicht passiert ist. Die Rechten hätten jeden einzelnen Sitz verlieren können und Russland hätte trotzdem einen Weg gefunden, sich zum Sieger zu erklären“.

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Garner geht in seinen Analysen sogar noch einen Schritt weiter: Rechts sei nicht gleich Rechts, und bedeute auch nicht automatisch eine anti-ukrainische bzw. pro-russische Haltung. „Die rechten Parteien im Europäischen Parlament sind sehr unterschiedlich. Die postfaschistische Partei Italiens, „Fratelli d‘Italia“ von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, beispielsweise unterstütze die Ukraine. „Diese rechten Parteien führen endlose Diskussionen miteinander – über die Ukraine, Migration und anderes. Währenddessen hält die politische Mitte seit Jahren die Macht.“

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Von diesen internen Problemen abgesehen, hätten die rechten Abgeordneten aber ein weiteres Problem: schlechte Chancen auf eine Zusammenarbeit mit Entscheidungsträgern. Laut Garner sei es wahrscheinlicher, dass die politische Mitte mit linken Fraktionen zusammenarbeitet als mit rechten. Diese politische Realität sei ein Widerspruch zu dem, wie Russland sich das Europäische Parlament wünsche, erklärt der Historiker: „Russland will ein Europäisches Parlament, das sich eindeutig in zwei Seiten einteilen lässt. Die, die eindeutig liberal sind und die, die eindeutig rechts sind“.

Hauptsache Chaos

Stefan Meister ist Leiter des Zentrums für Ordnung und Governance in Osteuropa, Russland und Zentralasien bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Er ist der Auffassung, dass Russland trotzdem Erfolge für sich verbuchen kann: Die Zugewinne der rechtsradikalen Parteien in Deutschland und Frankreich seien für Russland das Wichtigste, sagt Meister: „Hauptziel der russischen Desinformation war in diesem Jahr Frankreich. Die Tatsache, dass nach einer Neuwahl der Front National an der Regierung in Frankreich beteiligt sein könnte, bestätigt Russlands Perspektive, die EU sei gespalten.“

Das reiche dem Kreml fürs Erste. Denn das kurzfristige Ziel sei aktuell nicht, dass pro-russische Parteien überall die Mehrheit haben müssen. Russland ginge es schlichtweg darum, in der EU Chaos zu stiften: „Europa soll handlungsunfähig werden.“

Deswegen sei es jetzt umso wichtiger, die Menschen in Europa abzuholen: „Die Popularität von kritischen Stimmen gegenüber der Ukraine nimmt auch zu, weil Menschen das Gefühl haben, nicht zu wissen, wo es mit der ganzen Sache hingeht“, erklärt Meister. Deutschland fordert er dazu auf, seine Hausaufgaben zu machen: „Deutschland muss seine Handlungsfähigkeit demonstrieren, dann sind die Menschen weniger empfänglich für russische Desinformation“.

„Die europäische Meinung ist eine wichtige Quelle für die ukrainische Resilienz.“

Alexey Yusupov, Russland-Experte der Friedrich-Ebert-Stiftung

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Jakob Ross, Frankreich-Experte der DGAP, sieht es kritisch, dass Frankreichs Präsident Macron angesichts des Europawahlergebnisses Neuwahlen ausgerufen hat: Die Wahl könne auf zwei Ebenen potentiell Einfluss auf den Krieg in der Ukraine haben , erklärt Ross. Macron wird einen neuen Premierminister ernennen müssen – je nach Wahlergebnis aus dem linken oder rechten Lager. Beide Seiten seien, in unterschiedlicher Extreme, weniger pro-ukrainisch als Macron, so der Frankreich-Experte.

Darüber hinaus führe die Neuwahl dazu, dass sich Macron zunehmend auf innenpolitische Themen konzentriere: „Macron wird Wahlkampf im eigenen Land führen und deshalb in internationalen Diskussionen weniger präsent sein“. Damit setze er nicht nur Frankreich, sondern ganz Europa, in einer ohnehin angespannten Lage, der Instabilität aus.

Russland spielt auf Zeit – aber die EU hat einen langen Atem

Dass in Frankreich nun Neuwahlen stattfinden und sich Macron auf innenpolitische Themen konzentriert, spiele in Russlands Kalkül, erklärt Yusupov von der FES. „Russland hat im dritten Kriegsjahr eine neue Strategie gefunden: Spielen auf Zeit“. Ein schneller Sieg sei weder militärisch noch politisch möglich. Deswegen setze Russland jetzt auf Zermürbung - nicht nur beim ukrainischen Militär, sondern auch bei der öffentlichen Meinung in Europa: „Die ist wichtig, denn die europäische Meinung ist eine wichtige Quelle für die ukrainische Resilienz“.

Nach Einschätzung des Russland-Experten der Friedrich-Ebert-Stiftung setzt der Kreml auf eine Belastungsstrategie aus mehreren Komponenten: „Man droht mit Atomwaffen – das löst Angst aus, die zu Debatten führt. Man greift die Ukraine noch stärker an – die Debatte über das Unterstützungsniveau soll zugunsten der rechten Ränder hochgehalten werden“. Das übergeordnete Ziel: Europa soll im Chaos versinken und nach der Devise „Hauptsache der Krieg ist schnell vorbei, koste es was es wolle“ handeln.

Aber auch die EU kann auf Zeit spielen - und das sehr erfolgreich. Da sind sich Alexey Yusupov und Ian Garner einig. „Wir sollten uns nicht von Russland einreden lassen, die EU sei instabil. Denn auch die EU kann sehr gut auf Zeit spielen“, so Yusupov. Kurse, die einmal eingeschlagen wurden, könne man nicht so leicht ändern. Und die EU habe bereits einen Kurs eingeschlagen: die Unterstützung der Ukraine. „An dieser Stelle sind die langwierigen formellen Prozesse der EU ihre Stärke.“

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Ian Garner geht einen Schritt weiter und sagt, die Ergebnisse seien schlecht für Russland: „Im Kreml wird man über diese Wahlergebnisse sehr enttäuscht sein.“ Denn Russland habe viel investiert, aber verhältnismäßig wenig gewonnen: „Wenn wir uns anschauen, wieviel Russland in den letzten Monaten an Geld und Ressourcen investiert hat, um innerhalb der EU an Einfluss zu gewinnen, dann sind die Wahlergebnisse verhältnismäßig schlecht. Der Aufwand, der betrieben wurde, steht in keinem Verhältnis dazu, was erreicht wurde“, erklärt er. Russland habe nach der vergangenen Wahl nicht mehr Macht und Einfluss in der EU als zuvor, resümiert Garner.

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