In Zeiten von KI und Schreibprogrammen

Wie wichtig ist heute noch Rechtschreibung?

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Wie war das noch gleich? Heißt es „Widerlegen“ oder „wiederlegen“? „Annulliert“ oder „anulliert“ man? Wer zuerst kommt, mahlt derjenige auch zuerst, oder malt er? Es ist manchmal ein Kreuz mit der deutschen Rechtschreibung.

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Wem sie schon zu Schulzeiten das Leben schwer machte, erinnert sich oft auch noch im Erwachsenenalter mit Grauen an gnadenlos mit dem Rotstift durchkorrigierte Diktate. Und wer versucht, die rund 100 Regeln zu lernen und zu verstehen, resigniert nicht selten mit dem Gedanken, dass man das komplexe Regelwerk der deutschen Sprache ohnehin nie in Gänze erfassen kann.

Aber ist es nicht mittlerweile egal, wie gut und richtig man schreibt? Können im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz nicht einfach kluge Maschinen die Rechtschreibung übernehmen? Orthografie muss heute doch kein Mensch mehr können. Oder doch?

Falsche Orthografie erzeugt negative Gefühle

Im April dieses Jahres erregte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) – einst selbst Gymnasiallehrer, wenngleich für Naturwissenschaften – im Interview mit der „Zeit“ Aufmerksamkeit, indem er folgende, wohl eher rhetorisch gemeinte Frage stellte: „Ist Rechtschreibung tatsächlich so wichtig, wenn das Schreibprogramm alles korrigiert?“

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Die Frage trifft mitten ins Herz eines bildungsbürgerlich geprägten Landes, in dem das richtige Schreiben und die richtigen Grammatikkenntnisse seit vielen Jahrzehnten über berufliche Laufbahnen, Karrieren und sogar das soziale Ansehen von Menschen mitentscheiden. Deswegen mussten wir alle Rechtschreibung und Grammatik mühsam im Unterricht pauken. Wohl auch deshalb ist es vielen immer noch nicht gleichgültig, wenn Kurznachrichten, Zeitungsartikel oder Behördenbriefe voll von Fehlern sind – trotz Autokorrektur.

Warum also kann falsche Orthografie heute noch negative Gefühle erzeugen? „Die Rechtschreibung hat sehr lange mit der Frage des Sozialprestiges zu tun gehabt“, sagt Duden-Chefredakteurin Kathrin Kunkel-Razum. Nur allzu schnell wird das Gegenüber dann direkt als Ganzes infrage gestellt. Ein bisschen habe sich das in den vergangenen Jahren geändert: „Die Schlussfolgerung ‚Der kann keine Rechtschreibung, der ist wohl ein bisschen dumm‘“, sei zwar schon immer falsch gewesen, aber früher „war das noch viel relevanter“, sagt die studierte Germanistin, die seit 1997 in der Duden-Redaktion arbeitet, seit 2016 als Chefredakteurin.

Entscheidend beim Dating und auf dem Arbeitsmarkt

Dieselbe Beobachtung hat Michael Rödel angestellt. Der Germanist hat an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München eine Professor für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur inne. Auch er sagt: „Der gesellschaftliche Stellenwert der Rechtschreibung ist in den letzten vier Jahrzehnten gesunken.“ Ihn deswegen „aber immer weiter nach unten zu nivellieren“, so wie Kretschmanns rhetorische Frage es suggeriert, sei nicht sinnvoll. Rechtschreibung sei unter anderem deswegen so wichtig, weil zum Beispiel die Lesekompetenz wissenschaftlich erwiesen ganz entscheidend von den Schreibfertigkeiten abhänge und andersherum.

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Der gesellschaftliche Stellenwert der Rechtschreibung ist in den letzten vier Jahrzehnten gesunken.

Michael Rödel, Professor für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der LMU

Dass das Prestige der Rechtschreibung vielleicht sinkt, aber richtig schreiben noch lange nicht egal ist, zeigt eine Umfrage der Dating-Plattform Parship. Sie stammt aus dem Jahr 2017, beide befragten Sprachexperten verweisen auf sie: Demnach waren etwa drei Viertel aller Befragten zwischen 18 und 69 Jahren Rechtschreibkenntnisse bei einem potenziellen Partner oder einer Partnerin „wichtig“. Rund 10 Prozent gaben an, dass ihnen eine korrekte Rechtschreibung und Zeichensetzung sogar „sehr wichtig“ sei. Nur um die 7 Prozent fanden, diese sei zu vernachlässigen. Kurz gesagt: Wessen Profil auf Single-Datingplattformen mit allzu vielen Rechtschreibfehlern versehen ist, wirkt auf andere weniger attraktiv.

Gleiches gilt für den Arbeitsmarkt, wie ein Forschungsteam herausgefunden hat: So zeigte eine Studie aus dem Jahr 2022 unter 445 belgischen Recruitern, dass selbst wenige Rechtschreibfehler in einer Bewerbung die Chance verringern, zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden – und zwar um bis zu 18,5 Prozentpunkte. Eine interessante Erkenntnis darüber hinaus: Frauen wird eine schlechte Rechtschreibung dabei übler genommen als Männern.

Leistungen in Deutsch „in hohem Maße besorgniserregend“

So recht will man sich auf dem Arbeitsmarkt also (noch) nicht allein auf die Fähigkeiten von KI und Korrekturprogrammen verlassen, zumindest wenn es um die Basiskompetenzen geht: „Lesen, Schreiben und Rechnen bleiben im betrieblichen Alltag unentbehrlich. Diese Kompetenzen werden auf absehbare Zeit auch in der zunehmenden Interaktion mit KI ihre Bedeutung behalten“, heißt es etwa vonseiten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) – verbunden mit einem klaren Appell: „Alle Schülerinnen und Schüler sollten diese Grundkompetenzen spätestens bei ihrem Abschluss erworben haben.“

Dass das momentan allenfalls mäßig gelingt, zeigt der jüngste IQB-Bildungstrend aus dem Jahr 2022. Im Fach Deutsch fiel das Ergebnis „in hohem Maße besorgniserregend“ aus, so ein Fazit der Untersuchung, die bundesweit regelmäßig am Ende von Jahrgang 9 vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen in den Schulen durchgeführt wird. Konkret bedeutet das: „Mit fast 23 Prozent im Lesen, gut 25 Prozent im Zuhören und gut 13 Prozent in der Orthografie sind im Fach Deutsch die Anteile der Schülerinnen und Schüler, die den MSA (Mittlerer Schulabschluss, Anm. der Red.) anstreben und die Mindeststandards für diesen Abschluss verfehlen, zu hoch.“

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Die Rechtschreibung ist, wie Sprache auch, Teil unserer Identität, beides geht uns sehr nahe.

Kathrin Kunkel-Razum, Duden-Chefredakteurin

Zwar brauche es auch in Zukunft nicht für jeden Beruf und jede Tätigkeit einen Rechtschreib-Einser, betont etwa ein Sprecher der IG Metall. „Dennoch wird Rechtschreibung immer wichtig bleiben, solange es geschriebene Sprache und Texte gibt, ob von einer KI oder dem Kollegen Mensch.“ Generell werde in Zukunft weiter gelten: „Verstanden werden kann nur, wer sich auch mitteilen kann.“

Gutes Basiswissen für die Bedienung intelligenter Maschinen

Gleichgültig ist die Beherrschung der Rechtschreibung also keineswegs, auch wenn der Eindruck hier und da entstehen mag. Dem stimmt Christine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerats, zu: „Auch in der Ära der Künstlichen Intelligenz bleibt eine korrekte Rechtschreibung in der Pflege von Bedeutung.“

Noch wichtiger sei allerdings, sagt Vogler, „dass das Geschriebene inhaltlich verständlich und präzise formuliert ist. Ist der Text gut lesbar und wurden die passenden Worte gewählt? Können daraus beispielsweise bei der Übergabe von einem Dienst an einen anderen die richtigen Schlüsse gezogen werden?“ Das sei entscheidend für eine klare und professionelle Kommunikation sowie für eine korrekte Dokumentation. KI sieht Vogler eher als ein unterstützendes Tool: „Letztendlich sind fundierte Kenntnisse und eine präzise Ausdrucksweise der Pflegekräfte unverzichtbar, um Missverständnisse und Fehler zu vermeiden, die schwerwiegende Konsequenzen haben können.“

Zudem ist ein gutes Basiswissen notwendig, um intelligente Maschinen zu bedienen. „Wir sollten doch Herr und Frau über die Maschinen sein und nicht einfach die Kontrolle abgeben“, betont auch Kunkel-Razum. Sprich: Wer intelligente Systeme wie ChatGPT gut für sich nutzen und etwas Sinnvolles aus ihnen herausholen will, der muss prompten können – also die richtigen Befehle eingeben, nach denen die KI agiert. „Lesen, schreiben und klar denken können sind Grundvoraussetzungen dafür“, sagt Kunkel-Razum. Und Michael Rödel nennt ein Beispiel: Bei phonetisch zwar gleich klingenden, aber von der inhaltlichen Bedeutung komplett unterschiedlichen Wörtern wie ‚Meer‘ und ‚mehr‘ könne es da schnell zu Irritationen kommen.

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Letztendlich sind fundierte Kenntnisse und eine präzise Ausdrucksweise der Pflegekräfte unverzichtbar, um Missverständnisse und Fehler zu vermeiden, die schwerwiegende Konsequenzen haben können.

Christine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerats

Aber muss, gerade in Zeiten des Fachkräftemangels, schon im Bewerbungsverfahren der Fokus auf korrekte Orthografie gelegt werden? Christine Vogler zumindest hält Rechtschreibfehler im Bewerbungsverfahren nicht für ausschlaggebend: „Hier kann die KI helfen, diese zu vermeiden“, sagt die Pflegeratspräsidentin, die ihre Einschätzung allerdings mit einem großen Aber versieht: Auch in einer Bewerbung sollte nichts versprochen werden, was in der Praxis nicht eingehalten werden könne. „Dies gilt sowohl in der Pflege als auch in allen anderen Berufen.“

Kommunikation durch verbindliche Regeln vereinfachen

Richtiges Schreiben ist also auch heute noch von wichtiger und hoher Bedeutung. „Die Rechtschreibung ist, wie Sprache auch, Teil unserer Identität, beides geht uns sehr nahe“, sagt Kunkel-Razum. Das gilt offenbar auch für die Jüngeren unter uns, die bereits im digitalen Zeitalter aufgewachsen sind. Der Erfahrung von Sprachwissenschaftler und Didaktik-Professor Michael Rödel nach ist es Schülerinnen und Schülern sehr wichtig, richtig zu schreiben. Diese Motivation solle man ihnen nicht nehmen, etwa indem man das Lehren von Orthografie mit zu vielen Regeln überfrachte.

Also war die Idee mit der Vereinfachung der Rechtschreibung Mitte der Neunziger am Ende doch nicht so schlecht? In jener Zeit sollte die große Rechtschreibreform von 1996 das undurchsichtige Regelwerk entwirren. Damit stand der Duden in einer langen Tradition. Denn schon Anfang des 20. Jahrhunderts war eine solche Vereinfachung der Anlass, weswegen der Duden als verbindliches Regelwerk eingeführt wurde: „Damals gab es einen starken Wunsch danach, unser gesellschaftliches Miteinander und die Kommunikation durch verbindliche Regeln zu vereinfachen“, betont Kunkel-Razum.

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Dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz steht Kunkel-Razum trotz allem aufgeschlossen gegenüber. Auch der Duden-Mentor, die Rechtschreibprüfung des Verlags, arbeite teils KI-basiert: „Wir können uns der immer besser werdenden Hilfsmittel bedienen. Die Rechtschreibkenntnisse vernachlässigen sollten wir deswegen aber nicht“, lautet ihr Fazit. Rödel stimmt dem zu: „Dass die Mittel da sind, bedeutet nicht, dass sie immer gut eingesetzt sind“, daher solle man das korrekte Schreiben weiterhin in der Schule trainieren, auch in Verbindung mit KI.

Ob die Deutschen irgendwann bereit sein werden, ein so hochemotional beladenes Gut wie die eigene Sprache und Schrift komplett an die Kontrolle einer KI abzugeben, wird sich wohl erst in einigen Jahren zeigen. „Da könnten wir zu diesem Zeitpunkt nur orakeln, das wissen wir nicht“, sagt Michael Rödel.

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