So eine Geschichte können winzige, etwas über drei Quadratkilometer große Inseln nur selten bieten: geschaffen von einem Gott (Poseidon), befestigt am Meeresgrund mit vier diamantenen Säulen. Religiöses Zentrum der griechischen Antike, Empfänger unermesslicher Schätze und Opfergaben. Standort des zuverlässigsten Orakels (neben Delphi), Schauplatz der größten kulturellen und sportlichen Wettkämpfe (nach Olympia und Nemea). Handelszentrum, Zollfreiparadies, Aufbewahrungsort der Bundeskasse.
Von der Kykladeninsel Delos inmitten der Ägäis ist die Rede, die in ihrer Geschichte allerdings auch Unbill erlebte: Immer wieder wurde das Eiland verlassen von allen Bewohnern, mehrfach geplündert und zerstört von Feldherren und Seeräubern. Verschuldung, Überschuldung. Zankapfel und Faustpfand politischer Interessen, Unterwerfung und Umsiedelung der kompletten einheimischen Bevölkerung. Auch Erdbeben, bis zu 7,7 auf der Richterskala. Entmachtung der alten Götter, Verödung und Verfall.
Heute ist Delos, von einem Museumsaufseher abgesehen, unbewohnt. Trotzdem ist die Insel alles andere als leer: Wegen der sehenswerten ��berreste der Geschichte lockt sie reichlich Tagestouristen an. Während der Saison pendelt tagtäglich eine in die Jahre gekommene Passagierfähre vom Hafen Chora auf Mykonos in rund 45 Minuten hinüber zur Götterinsel.
Partys auf Mykonos, heilige Stätten auf Delos
Mykonos und Delos – ungleicher könnte die Gegenwart zweier griechischer Inseln kaum sein. Auf der einen Seite die Partydestination von Weltruhm, wo in der Hochsaison allein die Miete für einen Liegestuhl am Promistrand Psarou 100 Euro pro Tag verschlingt. Wo ein einfacher Espresso bei Sonnenuntergang am Ufermäuerchen zum Gegenwert eines Kilogramms edelster Kaffeebohnen angeboten wird. Wo die Strände Paradiese und, eine Bucht weiter, sogar Super Paradise heißen. Und wo Tassen mit der Aufschrift „Mykonos fucks Ibiza“ verkauft werden.
Eine Dreiviertelstunde später, einen Katzensprung westlich auf Delos: nichts. Kein Shop, kein Lokal, kein Hotel, kein Souvenirstand. An Land verbirgt sich die einzige Toilette hinter den Eintrittskassen in der Mitte des Kais. Es ist, als habe hier jemand der Tourismusindustrie und allen ihren Verführungen den Stecker gezogen. Selbst das schlichte archäologische Museum ist derzeit geschlossen. Die Ausflügler am Kai erleben buchstäblich einen Kulturschock.
Katharsis nennt man diesen Moment in der antiken Tragödie: die Läuterung von Leidenschaften, das Sich-Befreien von Konflikten und Spannungen. Delos hat in seiner Geschichte sogar zweimal ganz offiziell eine Katharsis erlebt: Vor 2500 Jahren entfernte man sämtliche Gräber und menschliche Überreste aus der Umgebung der dort errichteten Heiligtümer. 200 Jahre später durfte überhaupt niemand mehr auf Delos bestattet oder geboren werden.
Die dritte, inoffizielle Katharsis kam 1990 mit der Aufnahme in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes. Seither ist es nur noch Archäologen erlaubt, auf Delos zu übernachten. Alle anderen schlurfen, spazieren, wandern oder joggen als Tagesbesucher zwischen den ansehnlichen Überresten von Häusern, Palästen, Tempeln und Heiligtümern umher.
Nach der Zeitreise ein Cocktail am Strand
Zu seiner Blütezeit wurde Delos mit Reichtümern überschüttet. Es war üblich, Weihgeschenke auf der Götterinsel zu stiften, keine der umgebenden Kykladen wollte hinter den anderen zurückstehen, was die Pracht der Gaben betraf. Apollon und Artemis, dem Mythos nach auf Delos geboren, standen im Zentrum der Anbetung.
Selbst Hera, die rasend vor Eifersucht die Geburt der beiden zu verhindern trachtete, bekam ihr Tempelchen am Fuße des 112 Meter hohen Kinthos. Dort hinauf treibt es fast alle Besucher; ein Zeus-Heiligtum und ein Blick hinüber nach Mykonos, Naxos und Paros lohnen den Aufstieg.
Drei Stunden Aufenthalt erlaubt der strenge Fahrplan der Fähre, weshalb Hippodrom und Stadion von professionellen Guides meist aus dem Programm gestrichen werden. Nicht aber das Theater und vor allem nicht die naxischen Löwen: vier wiederaufgerichtete schneeweiße Marmorskulpturen, welche überlebensgroß die Geburtsstätte der göttlichen Zwillinge überblicken.
Dazwischen ist viel Platz für Lego-Fantasien: fein säuberlich aneinandergereihte Scheiben ionischer Säulen, die in Gedanken blitzschnell zu Tempeln heranwachsen. Teilweise freigelegte Mosaikböden, deren ermattete Motive sogleich in altem Glanz erstrahlen. In Stein geschlagene Waschbecken, welche augenblicklich in wiederaufgerichteten Palästen Platz finden. Was immer die Archäologen auf Delos ausgraben, säubern und auslegen – in den Köpfen der Besucher werden die antiken Ruinen wiederbelebt.
Bis das Horn der Fähre zum Aufbruch mahnt. 45 Minuten dauert die Rückkehr von der Antike in die Gegenwart, die Zeitreise von Delos nach Mykonos. Eine Rückfahrt, auf der sich plötzlich wieder Hunger und Durst melden, die Lust auf griechische Küche. Und auf einen Cocktail, am besten am Strand von Super Paradise.
Weitere Informationen:
Flug nach Mykonos (nonstop zum Beispiel mit Eurowings oder Lufthansa). Von dort legt am Hafen Chora täglich die Fähre nach Delos ab (Ticket für Erwachsene 22 Euro, für Kinder elf Euro), auf Wunsch können Touren mit Guide gebucht werden (60/30 Euro), delostours.gr/de. Zugang nur für Tagesbesucher, auf der Insel sind zusätzlich zehn Euro Eintritt fällig.