Im Sommer ist Marc Engelhardt oft auf Rügen anzutreffen. Am Strand und nackt, was auf der Insel ganz normal ist. Aber wie wird in anderen Ländern mit Nacktheit umgegangen? Engelhardt, Auslandskorrespondent, recherchierte weltweit und schrieb ein Buch darüber – in dem er interessante Unterschiede zutage fördert.
WELT AM SONNTAG: Seit der Pandemie gibt es mehr Camper, mehr Biker, mehr Wanderer in Deutschland – auch mehr Nudisten?
Marc Engelhardt: Ich glaube schon. Die Sonne oder das Wasser auf der ganzen Haut zu spüren, das ist eine der kleinen Freiheiten, die uns auch die Pandemie nicht nehmen kann. Mit der Kleidung wirft man außerdem oft die Alltagssorgen ab. Dazu kommt noch ein bisschen prickelnde Aufregung, weil man sich etwas traut und ein wenig Widerstand gegen soziale Zwänge übt. Nacktsein – das ist vielleicht die kleinstmögliche umsetzbare Utopie für uns alle.
WELT AM SONNTAG: In Ihrem Buch beschreiben Sie einen Selbstversuch im Nacktwandern. Hatten Sie keine Angst vor Zeckenbissen?
Engelhardt: Zunächst hatte ich vor allem davor Angst, was die anderen Wanderer, die angezogenen, wohl sagen würden, wenn wir ihnen begegnen. Die hat sich aber schnell gelegt, denn wenn man freundlich grüßt, dann grüßen die in der Regel genauso freundlich zurück.
Ansonsten war ich mit erfahrenen Nacktwanderern unterwegs, die mir die Angst vor Zecken genommen haben. Denn wenn man nackt wandert, sieht man die Zecken früh und kann sie wegschnipsen.
WELT AM SONNTAG: Lichter Laubwald oder blickdichte Tannen – was bevorzugen Sie?
Engelhardt: Jeder Wald geht. Und solange man sich respektvoll verhält, hat auch kein Förster damit Probleme. Es gibt zwei ausgeschilderte Nacktwanderwege in Deutschland, im Harz und in der Lüneburger Heide, die bieten sich für diejenigen an, die zum ersten Mal allein nackt wandern wollen.
WELT AM SONNTAG: Legt der Gesetzgeber Nacktwanderern in der Öffentlichkeit Beschränkungen auf?
Engelhardt: Wenn das Nacktwandern keiner sexuellen Absicht folgt, ist es erlaubt. Und mit sexueller Absicht hat Nacktwandern eben absolut nichts zu tun, genauso wenig wie die anderen Nackt-Aktivitäten, die ich erlebt habe. Das sieht auch die Polizei so, wenn sie denn mal gerufen wird. Das haben mir jedenfalls erfahrene Nacktwanderer versichert.
WELT AM SONNTAG: Nackt wandern, radeln, golfen, segeln – was kommt als Nächstes? Nackt ins Theater und ins Konzert?
Engelhardt: Vielleicht erleben wir das tatsächlich bald. Ich selbst war beispielsweise in Luxemburg bei einem Museumsbesuch für Nackte. Dort gab es erstaunlicherweise viele Teilnehmer, die sich davor noch nie öffentlich ausgezogen hatten. Bei nackten Theater- oder Konzertbesuchen könnte das ähnlich sein, es wäre dann halt eine neue Erfahrung.
WELT AM SONNTAG: Sie haben nicht nur in Deutschland, sondern weltweit recherchiert; was hat Sie besonders überrascht?
Engelhardt: Die Vielfalt an Nackt-Erlebnissen, darunter auch künstlerisch ambitionierte. So habe ich mich nördlich des Polarkreises mit Hunderten anderer nackt auf einem Berg fotografieren lassen.
Und in Japan war ich mit einer Horde Einheimischer bei einem 1300 Jahre alten Fest, bei dem die Männer nackt sind. Überhaupt Japan! Dort gibt es sogar ein „Fest des eisernen Penis“; so etwas wäre wohl selbst bei uns ein Tabu.
WELT AM SONNTAG: Tabu? Gutes Stichwort, im Buch schildern Sie Nackt-Erlebnisse im marokkanischen Hammam. Was ist dort anders als etwa in europäischen oder asiatischen Saunen und Spas?
Engelhardt: Das Verhältnis zum Nacktsein ist in islamischen Ländern schlicht ein ganz anderes. Der Hammam etwa ist für Frauen ein Ort großer Freiheit. Kinder, auch Jungen, sehen ihre Mütter und andere Frauen dort nackt. Man darf auch nicht vergessen: In vielen Ländern, wo öffentliche Nacktheit heute verpönt ist, ist das oft eine Folge des Kolonialismus, mit dem puritanische Ideale aus Europa eingeschleppt wurden.
WELT AM SONNTAG: Länder, die ohne Zutun kolonialer Eroberer Prüderie pflegen, gibt es auch etliche. An welche denken Sie zuerst?
Engelhardt: An den Vatikan, da ist selbst das Babystillen in der Öffentlichkeit verboten. Und Saudi-Arabien – auf meiner Nacktkreuzfahrt war interessanterweise aber ein saudischer Naturist an Bord. Und in den USA gibt es einige Staaten, in denen Nacktheit noch streng bestraft wird.
WELT AM SONNTAG: Wobei sich auch Europäer mit dem Nacktsein oft schwertun. Viele Norweger etwa lieben FKK, würden aber nie gemischt saunieren, und wenn, dann nur in Badebekleidung.
Engelhardt: Stimmt. Ähnliche Merkwürdigkeiten fand ich in Finnland, etwa öffentliche Saunen mit zwei Türen, eine für Männer, eine für Frauen. Beide führen aber in die gleiche Sauna, in der Mitte steht eine Art Gartenzaun.
Doch mal abgesehen von Länder-Mentalitäten ist Nacktsein ein sehr persönliches Thema. Viele Menschen mögen ihren Körper nicht, vielleicht, weil wir im Internet so viele retuschierte Traumkörper sehen. Schönheits-OPs im Intimbereich boomen. Man kann Tausende Euro und viel Frust sparen, wenn man sich an einen FKK-Strand legt und sich anschaut, wie normale Körper aussehen – nämlich auch nicht perfekter als der eigene.
WELT AM SONNTAG: Mit dieser Meinung rennen Sie in Deutschland offene Türen ein. So kommt für zwei Drittel der Männer und fast 50 Prozent der Frauen das Nacktbaden prinzipiell infrage, Umfragewerte, die kaum irgendwo anders weltweit erreicht werden. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Engelhardt: Das ist wirklich ein seltsames Phänomen. Zum Teil liegt das sicher an der Geschichte der FKK-Bewegung, die in Deutschland entstanden ist. 1893 wurde in Essen der erste FKK-Verein gegründet. In der DDR haben sich die Bürger das Nacktbaden dann gegen erheblichen Widerstand der Staats- und Parteiführung erkämpft.
WELT AM SONNTAG: Nacktheit als deutsches Alleinstellungsmerkmal – ließe sich daraus touristisches Kapital schlagen?
Engelhardt: Unbedingt! Ich habe eine Freundin auf Rügen, die in Afrika unterwegs war und dort erzählte, woher sie stammt. Und da hieß es: „Ah, Rügen – ist das nicht da, wo man nackt badet?“ Mitten in Afrika! „Da, wo man nackt badet“ wäre mit Sicherheit ein großartiger Werbespruch für Deutschlands schönste Insel. Und für das ganze Land, denn so viel touristische Infrastruktur für Nackte wie hier, die gibt es allenfalls noch in Frankreich.
WELT AM SONNTAG: Sie selbst waren ja im französischen Cap d’Agde; geht es dort anders zu als auf deutschen FKK-Campingplätzen?
Engelhardt: Ja, und das schon allein deshalb, weil Cap d’Agde die einzige nackte Stadt der Welt ist. Da geht man auch nackt essen, zur Bank oder zum Mülleimer. Mein Eindruck war, dass dort viele sehr auf Fitness und generell auf ihren Körper zu achten scheinen. Inzwischen gibt es außerdem eine ziemlich aktive Swinger-Szene samt eigenem Strandabschnitt.
WELT AM SONNTAG: Das klingt fast so, als würden die Grenzen zwischen Nudisten und Swingern allmählich verschwimmen?
Engelhardt: Nein, mit Ausnahme von Cap d’Agde habe ich das anders wahrgenommen. Gerade in traditionellen FKK-Zusammenhängen ist es so, dass Nacktheit nichts mit Sex zu tun hat. Bei einem Nacktseminar, das ich für das Buch besucht habe, sagte der Seminarleiter: Man legt die Sexualität mit der Kleidung ab.
Ein gutes Beispiel dafür ist auch das Nackt-Yoga, das ich bei einer New Yorker Lehrerin praktiziert habe. Dort konnte man nackt sein, ohne dass das sexualisiert war. Allerdings lief das Nackt-Yoga in einem speziellen geschützten Raum ab.
WELT AM SONNTAG: Gilt das auch für FKK-Kreuzfahrten, spielt Sex da keine Rolle?
Engelhardt: Für meine Recherche war ich auf einer Karibikkreuzfahrt mit 2000 Nackten. Ich hatte das Gefühl, dass die Leute gern nackt waren, dass sie ihre Körper gefeiert und sich unter anderen Nackten wohlgefühlt haben. Sie haben nackt getanzt, gesungen und sicher auch geflirtet, aber nicht mehr, als man das bei einer angezogenen Kreuzfahrt erwartet.
Christie Meyer, deren Eltern vor 30 Jahren die erste Nacktkreuzfahrt organisierten, hat das so formuliert: „Ich glaube schon, dass es an Bord sehr viel Sex gibt, wir sind schließlich im Urlaub.“ Aber das findet in der Kabine statt.
-> Zur Person: Marc Engelhardt
Als Afrika-Korrespondent berichtete Marc Engelhardt viele Jahre lang aus über 30 Ländern. Inzwischen lebt der gebürtige Kölner in Genf, ist aber weiterhin neugierig in der Welt unterwegs. So schreibt der 49-Jährige politische Sachliteratur, Reisebücher und kulturgeschichtliche Führer. Sein neues Werk „Ich bin dann mal nackt“ erschien gerade im Goldmann Verlag, 288 Seiten, 14 Euro.
„Zeiten sind überholt“ – Oben-ohne-Demo radelt durch Berlin
Ende Juni gerät eine Frau auf einem Berliner Wasserspielplatz mit den Ordnungsbehörden aneinander, weil sie sich oben ohne sonnt. Bei einer Fahrrad-Demo protestieren nun Hunderte für die Entsexualisierung von Brüsten – oben ohne.
Quelle: WELT/Laura Fritsch