Es ist vier Uhr morgens, und eine weiß gekleidete Gestalt steht am Bett. Hätte man nicht das Programm der Kur aufmerksam gelesen, man könnte an eine Geistererscheinung im Kloster denken. Wohin man den Heusack haben möchte, fragt sie. Auf die schlaftrunkene Geste in Richtung Schulter hin bettet Schwester Johanna, 85, umstandslos um. Legt eine heiße Fangopackung ins Bett, den Heusack darauf. Und ein kaltes Tuch auf die Brust, „wegen dem Kreislauf“. Dann schlägt sie die Bettdecke um die Beine, stramm gewickelt wie ein Neugeborenes liegt man da.
Später sammle sie alles wieder ein, erklärt sie und murmelt beim Rausgehen: „Gelobt sei Jesus Christus.“ Eine Stunde später rasselt ihr Schlüsselbund. „Es wird ja schon Tag“, sagt sie. Rafft Tücher, Laken und Heusack zusammen. „Jetzt schlafen’S noch weiter, gell.“ Und weg ist die Dominikanerin.
Der frühmorgendliche Heublumensack gehört zu einer Kneipp-Kur. Dafür ist Bad Wörishofen berühmt – und im Dominikanerinnen-Kloster begann ihre Erfolgsgeschichte, als von Hotels noch nicht die Rede war. Pfarrer Kneipp entwickelte seine Kur in Bad Wörishofen, dort wird 2021 der 200. Geburtstag des Naturheilkundlers gefeiert.
Um mehr zu erfahren, kann man mit Kneipps Nichte Rosina durch die Kleinstadt spazieren. Natürlich ist Ursula Schurr nicht wirklich die Nichte, doch als Stadtführerin spielt sie diese Rolle, in einem historisierenden Gewand vom Kostümverleih.
Kneipp war Autodidakt
Auf der Tour erfährt man zum Beispiel, dass Sebastian Kneipp in eine Weberfamilie hineingeboren wurde und ein Gönner seinen Schulbesuch ermöglichte. Als junger Mann erkrankte er an Tuberkulose, entdeckte das Buch „Unterricht von Krafft und Würckung des frischen Wassers in die Leiber der Menschen“ und kurierte sich selbst, indem er regelmäßig in die Donau bei Dillingen stieg und sich mit kaltem Wasser übergoss.
Er studierte, heilte erkrankte Kommilitonen mit seinen Wasseranwendungen und bekam Ärger wegen Kurpfuscherei, da Heilen nur Ärzten erlaubt war. Kneipp war aber nur Pfarrer. Da er kein Geld nahm und beteuerte, nur Menschen zu behandeln, denen Ärzte nicht helfen konnten oder die kein Geld dafür hatten, kam er immer glimpflich davon. 1855 wurde er Geistlicher im Dominikanerinnen-Kloster in Wörishofen, wo er sich nicht nur um das Seelenheil der Schwestern kümmerte, sondern um das des ganzen Orts.
Seine Heilerfolge mit Wasser sprachen sich herum, immer mehr Menschen kamen, aus Bauern wurden Hoteliers. Wörishofen prosperierte. Kneipp schrieb einige Bücher, sie hießen etwa „Meine Wasserkur“ und „So sollt ihr leben“, schließlich gab es den ersten Kurarzt, der Kneipps Methoden unterstützte.
Heute ist der 1894 gegründete Kneippärztebund in Bad Wörishofen ein prominenter Vertreter des beliebten kneippschen Naturheilverfahrens, das seit 2015 zum immateriellen Unesco-Weltkulturerbe zählt.
Die Kur ist kein Wellness-Programm
„Das mit dem Wasser, das ist sicher ganz nett“, dachte sich auch Thomas Riefler, als er als Arzt nach Bad Wörishofen kam. Dann habe er sich ernsthaft damit beschäftigt; nun ist er Kneipparzt und erklärt, es bekomme „beileibe nicht jeder dasselbe verschrieben. Ich muss abwägen, was hält der aus? Es geht um Reiz und Reizantwort.“ Etwa der „Spanische Mantel“, ein eng gewickelter Leinen-Bademantel mit Essigwasser: „Der geht aufs Herz, dafür muss man gesund sein“.
Er initiierte auch eine Vater-Kind-Kur, „die haben uns die Bude eingerannt“. Es gebe großen Bedarf, „Männer reiben sich auch auf“, nur erholten sie sich anders als Frauen, wollten mehr Aktives und weniger Yoga.
TEM wird die Kneipp-Kur in Bad Wörishofen auch genannt, Traditionelle Europäische Medizin, als Pendant zu TCM, der chinesischen Heilkunde. Und ähnlich schnörkellos kommt sie daher. Denn Kneippen ist alles andere als Wellness und ohne jedes Chichi.
Nach dem frühmorgendlichen Heusack geht es noch vor sieben Uhr weiter in der Badeabteilung. Da werden Körperteile mit kaltem Wasser abgespritzt. Wer hohen Blutdruck hat, bekommt ein Wechselfußbad mit Melisse, andere hingegen ein Armbad mit Rosmarin.
Kein Fernseher und kein WLAN
Im Klosterhotel stehen keine Fernseher, und das WLAN reicht nicht bis in die Zimmer. Mancher Gast murrt darüber, doch die meisten genießen die Entschleunigung, setzen sich in den Klostergarten, atmen tief durch oder schließen sich einer Qigong-Gruppe an. Andere spazieren durch das Städtchen, das 1920 zum „Bad“ wurde. Man genießt den Kurpark mit seinem Kräutergarten oder wagt sich zum Wassertreten in eine der 23 Kneippanlagen.
Wie im Klosterhotel wird auch im „Kneippkurhaus St. Josef“ nach der Philosophie Kneipps gekocht, sagt Küchenchef Marcus Müller. Natürlich hat das „St. Josef“ einen eigenen Kräutergarten. Fleisch gibt es wenig, und wenn, dann von einem Metzger, der mit weniger Stress für die Tiere schlachte, sagt Müller – aber klar sei schon: „Kein Schwein gibt das Schnitzel freiwillig her.“
Damit hat man die fünf Säulen der kneippschen Philosophie beieinander: Wasseranwendungen mit Waschungen und Güssen, Bewegung wie Spazierengehen (wobei Kneipp auch Holzhacken verschrieb), Kräutertherapie, Vollwerternährung und Ordnungstherapie für die innere Balance, etwa mit Atmen, Yoga und Qigong. Perfekt auch für moderne Menschen mit Burn-out, findet Kurarzt Riefler. Und freut sich, dass Vorsorgekuren wieder Pflichtleistungen der Krankenkassen sind.
Der Kurarzt zeigt zwar Verständnis für strenge Richtlinien, die freizügig verschriebenen Kuren seien teils ausgenutzt worden, „morgens Fango, abends Tango“. Das Mäßigende und Mahnende der Kneippkur sehe aber anderes vor. Denn wie schon Sebastian Kneipp sagte: „Saufen wollen alle, aber sterben will keiner.“
Tipps und Informationen
Anreise: Mit der Bahn von Berlin über Augsburg mit einmal umsteigen rund sechs Stunden, ab München in etwa einer Stunde.
Unterkunft: Kuroase im Kloster, Klosterhof 1, Bad Wörishofen, www.kuroase-im-kloster.de. Kneippkurhaus St. Josef, Adolf-Scholz-Allee 3, Bad Wörishofen www.kneippkurhaus-st-josef.de . Kneipp-Kurhotel und Wellnesshotel Förch, Irsinger Strasse 15, Bad Wörishofen, www.kurhotel-foerch.de .
Allgemeine Information: www.bad-woerishofen.de
Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von Bad Wörishofen. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter www.axelspringer.de/unabhaengigkeit