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Energiewende

Eine Stadt gerät unter Spannung

Autorenprofilbild von Olaf Preuß
Von Olaf PreußWirtschaftsreporter
Veröffentlicht am 15.05.2024Lesedauer: 8 Minuten
Kevin Meyer (l.), Geschäftsbereichsleiter Assetmanagement bei Stromnetz Hamburg, und Bastian Pfarrherr, Fachbereichsleiter Innovationsmanagement, neben einer Ladesäule auf dem Campus des Unternehmens in Bramfeld
Kevin Meyer (l.), Geschäftsbereichsleiter Assetmanagement bei Stromnetz Hamburg, und Bastian Pfarrherr, Fachbereichsleiter InnovationsmanagementQuelle: Bertold Fabricius

Das städtische Unternehmen Stromnetz Hamburg baut die Infrastruktur für die Elektrizitätsversorgung in Hamburg bei vollem Betrieb mit weiteren fünf Milliarden Euro an öffentlichen Investitionen komplett um – das Ziel ist deutlich mehr Transparenz, um ein stabiles Netz zu gewährleisten.

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Auf dem Busbetriebshof der Verkehrsbetriebe Hamburg-Holstein (VHH) in Billbrook herrscht reger Betrieb. Etliche Fahrzeuge kommen und gehen an diesem Mittag. Dieselabgase riecht man trotzdem nicht. Wenn die Fahrer ihre Schicht beenden, hängen sie ihren Bus einfach zu einer kurzen Zwischenladung ans Stromnetz, bevor der wieder auf Strecke geht. Billbrook, eröffnet im September 2023, ist der erste reine Betriebshof der VHH für Elektrobusse, ausgestattet mit 41 Stellplätzen.

Die bisherigen Erfahrungen seien sehr gut, sagt Betriebshofleiter Patrick Fischer. „Die Busse werden über Nacht geladen. Das reicht – mit der Zwischenladung beim Schichtwechsel – für einen kompletten Umlauf von bis zu 18 Stunden mit 400 bis 450 Kilometern.“ Tim Schlotfeldt, Teamleiter Ladeinfrastruktur, kann an seinen Monitoren etliche Daten sehen und analysieren: wie viel Strom der gesamte Betriebshof und einzelne Busse gerade laden, wie viel in den vergangenen 24 Stunden verbraucht wurde, wann beim Laden der größte Bedarf herrscht. Diese Transparenz schafft die Systemsoftware des Programms „eRound“, das der städtische Netzbetreiber Stromnetz Hamburg entwickelt hat. „Mit ,eRound’ optimieren wir den Strombezug im Dialog mit großen Energieverbrauchern wie etwa VHH“, sagt Bastian Pfarrherr, Fachbereichsleiter Innovationsmanagement bei Stromnetz Hamburg. So könne man Überlastungen des Netzes vorbeugen.

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Patrick Fischer, Betriebshofleiter bei VHH
Patrick Fischer, Betriebshofleiter bei VHHQuelle: Bertold Fabricius

Bei vollem Betrieb baut Stromnetz Hamburg die Elektrizitätsversorgung der zweitgrößten deutschen Stadt fundamental um – das Stromnetz soll fit gemacht werden für die Energiewende und für die technologischen Erfordernisse der Zukunft. Das kommt einer Neuerfindung des derzeit rund 29.000 Kilometer langen Netzes gleich. Es ist das größte, komplexeste Energieprojekt in der Geschichte der Hansestadt. Strom soll der wichtigste Energieträger werden – Gebäudewärme, die heute noch aus Heizöl, Erdgas oder Kohle erzeugt wird, kommt künftig aus bis zu 175.000 Wärmepumpen oder, in der Fernwärme, aus riesigen Tauchsiedern, sogenannten Power-to-heat-Anlagen.

Elektroantriebe sollen Verbrennungsmotoren in Fahrzeugen ersetzen. Zwar stockt der Absatz von Elektro-Pkw in Deutschland nach dem abrupten Ende der Kaufprämien. Aber öffentliche und privatwirtschaftliche Flottenbetreiber richten ihre Bestände weiterhin neu aus. Allein die Hochbahn Hamburg, das größere Schwesterunternehmen der VHH, will bis Anfang der 2030er-Jahre ihre derzeit 1100 Fahrzeuge umfassende Flotte auf Elektrobusse umstellen. Hinzu kommen bis zu 10.000 autonom fahrende Elektromobile im öffentlichen Personennahverkehr, betrieben vor allem vom Unternehmen Moia. Auch werden die Deutsche Bahn mit der neuen S-Bahn-Linie S4 und die Hochbahn mit der neuen U-Bahn-Linie U5 künftig deutlich mehr Strom brauchen.

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Mit der Höchstspannung von 380.000 Volt kommt der Strom aus dem Übertragungsnetz an den Übergabepunkten in Hamburg an. In der Stadt selbst spannt Stromnetz Hamburg mit Dutzenden großen und Tausenden kleinen Transformatoren die Energie über die Zwischenstufe 110.000 Volt auf 10.000 Volt für große Energiekunden etwa in der Wirtschaft und auf 400 Volt für Privathaushalte herunter. Aus der Steckdose zu Hause kommen 230 Volt. Die Herausforderung besteht vor allem darin, das Netz einer in Zukunft wesentlich stärker elektrifizierten Großstadt stabil und leistungsfähig zu halten, ohne dafür in der Stadt fossil betriebene Kraftwerke nutzen zu müssen. Vor allem auch dafür braucht Stromnetz Hamburg das System „eRound“.

Das Umspannwerk von Stromnetz Hamburg an der Gustav-Adolf-Straße in Hamburg
Das Umspannwerk von Stromnetz Hamburg an der Gustav-Adolf-Straße in HamburgQuelle: Bertold Fabricius

Die Versorgung der 1,2 Millionen Netzkunden in der Hansestadt ist ungewöhnlich komplex – in Hamburg ist der Anteil wirtschaftlicher Großverbraucher wie etwa Airbus, ArcelorMittal oder des Hafenlogistik-Konzerns HHLA besonders hoch. Und längst fließt der Strom nicht mehr nur in eine Richtung von größeren Kraftwerken zu den Abnehmern – Zehntausende Verbraucher werden absehbar auch selbst Stromerzeuger sein, vor allem mithilfe gewerblich und privat genutzter Solaranlagen. Die Revolution im Stromnetz wird langwierig und teuer, finanziert aus städtischen Steuermitteln: „Der Um- und Ausbau der Hamburger Stromnetze ist ein Mammutprojekt, das wir in den nächsten zwei Jahrzehnten stemmen müssen“, sagt Stromnetz-Hamburg-Chef Andreas Cerbe. „Wir sind mit den ersten erforderlichen Netzmaßnahmen, die auch mehr Intelligenz im Netz bedeuten, schon vor Jahren gestartet und haben in den vergangenen zehn Jahren zwei Milliarden Euro investiert. In den nächsten zehn Jahren wird dieser Wert aus heutiger Sicht auf weitere fünf Milliarden Euro anwachsen.“ Man könne nicht abwarten, „ob sich unsere jetzigen Leistungsprognosen vollständig bewahrheiten. Dazu nimmt eine flächendeckende Leistungsverstärkung einfach zu viel Zeit in Anspruch.“

Anfang der 2000er-Jahre hatte der schwedische Konzern Vattenfall von den Hamburgischen Electricitäts-Werken (HEW) das städtische Stromnetz, das Fernwärmenetz und Anteile an Kraftwerken übernommen. Nach dem Volksentscheid von 2013 mussten die jeweils beteiligten Unternehmen das Strom-, das Erdgas- und das Fernwärmenetz wieder an die Stadt verkaufen. Mit der Re-Kommunalisierung kann Hamburg, wie inzwischen viele deutsche Städte, seine Energienetze wieder selbst kontrollieren. Angesichts der enormen Herausforderungen, die mit der Energiewende einhergehen, dürfte das ein großer Vorteil sein, auch bei der Stromversorgung: „Laut einer aktuellen Prognos-Studie könnte sich die Höchstlast für Hamburg von heutzutage rund 1600 Megawatt bis 2045 auf 3600 Megawatt erhöhen – aber auch eine Verdreifachung auf 4800 Megawatt wäre laut einigen Studien denkbar“, sagt Kevin Meyer, Geschäftsbereichsleiter Assetmanagement bei Stromnetz Hamburg. „Beim Stromverbrauch prognostiziert die Studie für Hamburg einen Anstieg von derzeit etwa zwölf Terawattstunden im Jahr auf etwa 19 Terawattstunden bis 2045.“ Als „Last“ bezeichnet die Stromwirtschaft die Stromleistung, die jeweils im Netz geführt wird.

Der Betriebshof für Elektrobusse des Unternehmens VHH in Hamburg-Billbrook.
Der Betriebshof für Elektrobusse des Unternehmens VHH in Hamburg-Billbrook.Quelle: Bertold Fabricius

Mit dem heutigen wird das künftige Stromnetz wenig gemein haben. Die Energieversorgung der Zukunft – nicht nur in Hamburg, sondern in ganz Deutschland – wird zu einem weit höheren Grad elektrifiziert sein als die heutige, von der Mobilität und der Gebäudewärme bis hin zu vielen industriellen Produktionsprozessen. Zu der heute bereits großen Zahl professioneller Stromversorger, die den Strom – „diskriminierungsfrei“, wie es die Bundesnetzagentur vorschreibt – durch das Hamburger Netz zu ihren Kunden leiten, werden in den kommenden Jahrzehnten Zigtausende neue, kleine Stromerzeuger hinzukommen. Zugleich steigt auch die Zahl der Stromverbraucher um Zehntausende an – mit Folgen für das öffentliche Leben: „Derzeit haben wir im Jahr etwa 5000 sogenannte ,Aufgrabescheine’, Genehmigungen für Bauarbeiten am Stromnetz, davon sind 2500 größere Baustellen“, sagt Meyer. „Das wird in den kommenden Jahren deutlich mehr werden.“ Dafür brauche Stromnetz Hamburg „unbedingt“ auch effizientere Genehmigungsverfahren.

Das Stromnetz der Zukunft wird multipolar, interaktiv und hochgradig kommunikativ sein. Denn nicht nur beim Verbrauch, auch bei der Erzeugung ändert sich die Leistung permanent. Der allergrößte Teil des regenerativ erzeugten Stroms stammt heutzutage aus Wind- und Sonnenkraft – aus schwankenden, unzuverlässigen Energiequellen. Sie müssen um massentaugliche Speicher ergänzt werden, um Nächte und Flautezeiten überbrücken zu können: Große Batterien kommen dafür infrage, vor allem aber Warmwasserspeicher und Wasserstoff, der per Elektrolyse aus Wasser gewonnen wird.

Das Programm „eRound“ ist für Stromnetz Hamburg ein entscheidendes Werkzeug, um die Entwicklung des Stromnetzes zu steuern. In einem Büro am Hauptsitz des Unternehmens in Bramfeld zeigen Bastian Pfarrherr und Kevin Meyer, wie das funktioniert. Rund 1600 von derzeit insgesamt 2000 öffentlich zugänglichen Ladestationen in Hamburg werden per „eRound“ überwacht. An der Rothenbaumchaussee 60 steht die wohl meistbeschäftigte öffentliche Hamburger Ladesäule – 760 Mal wurden Autos in den zurückliegenden 30 Tagen an dieser Station geladen.

Mit „eRound“ und anderen Programmen kann Stromnetz Hamburg unter anderem sehen, wie viele neue Stromnutzer und Stromerzeuger ans Netz kommen. Mittlerweile sind es etwa 13.500 privat betriebene Solaranlagen auf Dächern oder sogenannte „Balkonkraftwerke“, 5200 offiziell registrierte Ladestationen, sogenannte „Wallboxen“, und etwa 5000 Batteriespeicher. „In Hamburg gibt es etwa 300.000 Gebäude. Wir können heute bereits für jedes einzelne Gebäude künftige Bedarfe und Energieeinträge simulieren, wenn es um Speicher, Wallboxen oder Solaranlagen geht“, sagt Meyer. Das Stromnetz werde anhand der Prognosedaten ausgebaut. „Wir werden von drei Kilometern Netz-Neubau auf bis zu 30 Kilometer Neubau im Jahr hochgehen müssen. Das Netz bauen wir jeweils anhand der zu erwartenden Last aus.“ Diese Höchstleistung versuche man durch Lastmanagement möglichst so zu glätten, „dass wir das Netz nicht unnötig vergrößern und ausbauen müssen“.

Falls eine Überlastung des Netzes droht, kann Stromnetz Hamburg den Stromtransport reduzieren – auch dann, wenn etwa der Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz nicht genügend Strom nach Hamburg liefert. „Wir sperren einem Verbraucher nicht den Strombezug, wenn eine Netzüberlastung droht. Aber wir können die Stromlast zum Beispiel von den üblichen 100 Prozent auf 80 Prozent absenken, um das Netz zu entlasten“, sagt Pfarrherr. „Nach Paragraf 14a des Energiewirtschaftsgesetzes ist das seit dem 1. Januar möglich. Wir wollen vor allem darauf hinaus, den Stromverbrauch netzdienlich zu beeinflussen, auch bei kleineren Verbrauchern.“

Der größte Schub beim Ausbau des Netzes steht noch bevor. Auf den Parkplätzen der meisten Supermärkte etwa werden künftig Ladestationen für Elektroautos stehen, und nicht nur dort. „Wir wollen zum Beispiel auch mit der Schulbehörde darüber sprechen“, sagt Pfarrherr, „ob die Parkplätze an den Hamburger Schulen nicht nach Schulschluss genutzt werden könnten, um dort Elektroautos zu laden.“

Das Umspannwerk HafenCity von Stromnetz Hamburg
Das Umspannwerk HafenCity von Stromnetz HamburgQuelle: Bertold Fabricius

Manche traditionelle Aufgabe für Stromnetz Hamburg wirkt, verglichen damit, schon fast banal. An Schaltkästen im Umspannwerk HafenCity steht auf orangen Aufklebern „Elbtower 1“ bis „Elbtower 4“. In der Anlage wird Starkstrom von 110.000 Volt auf 10.000 Volt herunter gespannt. Ob aus der Bauruine des „Kurzen Olaf“ tatsächlich noch ein stolzes Hochhaus an den Elbbrücken werden wird, weiß derzeit niemand. Doch für das Prestigeprojekt der insolventen österreichischen Signa-Gruppe, das der frühere Hamburger Bürgermeister und heutige Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) politisch mit initiiert hatte, sind im Umspannwerk die Anschlüsse schon reserviert. Strom jedenfalls, wenn er denn je in Betrieb geht, würde der Elbtower sicher bekommen.