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Deutschland Christian Lindner

Der FDP-Chef gibt den Mutmacher für Gescheiterte

Selfie mit Parteiboss: Junge Start-up-Unternehmer verschaffen sich in Frankfurt am Main ein Bild vom FDP-Vorsitzenden Selfie mit Parteiboss: Junge Start-up-Unternehmer verschaffen sich in Frankfurt am Main ein Bild vom FDP-Vorsitzenden
Selfie mit Parteiboss: Junge Start-up-Unternehmer verschaffen sich in Frankfurt am Main ein Bild vom FDP-Vorsitzenden
Quelle: Frauke Bönsch,www.fash.de
Christian Lindner beschwört bei Start-up-Unternehmern die Mentalität der zweiten Chance. So schafft er es, die einst abgeschriebene Partei wieder jung und dynamisch erscheinen zu lassen.

Schon mit 19 Jahren habe er sich einen Porsche gekauft. Gut, räumt Christian Lindner ein, er hätte mit seinem ersten selbst verdienten Geld als Unternehmer sicher auch etwas Sinnvolleres anstellen können – um sich unverzüglich selbst zu widersprechen: „Nein, man muss sich seine Träume sofort erfüllen, wenn man es kann.“

Der heute 37-jährige FDP-Bundesvorsitzende wähnt sich, kurz vor den für das Schicksal der Liberalen so bedeutsamen Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt offenbar auf der Überholspur. Wie aufgedreht wirkt er an diesem Abend, als er bei der FuckUp Night in Frankfurt launig über seine frühen Erfahrungen als Unternehmensgründer parliert. Bei dem jungen Publikum aus der Start-up-Szene kommt er damit glänzend an. Die mehr als 1000 Zuhörer folgen Lindners brillierender Rhetorik mit Begeisterung, lachen dankbar über seine geschliffenen Pointen. Sie betrachten ihn offensichtlich nicht als einen Politiker, der am Vorabend der hessischen Kommunalwahlen gekommen ist, um Stimmen abzugreifen, sondern als einen der ihren.

Auf ein Bier im Hörsaal: Der FDP-Chef mit angehenden oder bereits gescheiterten Firmengründern
Auf ein Bier im Hörsaal: Der FDP-Chef mit angehenden oder bereits gescheiterten Firmengründern
Quelle: Frauke Bönsch,www.fash.de

Die Idee der FuckUp Nights ist es, eine Art Kultur des Scheiterns zu befördern, die junge Existenzgründer ermutigt, nicht aufzugeben, wenn sie erste Versuche in den Sand gesetzt haben. Im Jahr 2012, so will es die Legende, haben sich einige solche Wagemutige in Mexiko-Stadt beim Biertrinken von ihren Flops (Fuck-ups) erzählt. Und meinten, an diesem Ritual sollten doch viel mehr Leute mit ähnlichem Hintergrund teilhaben können. In 150 Städten weltweit treffen sich mittlerweile Start-up-Ambitionierte, um ihre Geschichten von verfehlten Anläufen ins große Geschäft auszutauschen und daraus Lehren für neue Projekte zu ziehen. Die Frankfurter FuckUp Night reklamiert für sich, die Zweitgrößte ihrer Art zu sein.

Lindner bewegt sich im Kreise dieser jungen Businessenthusiasten, für die das Anfixen von Investoren eine ähnliche Leidenschaft darzustellen scheint wie für Heavy-Metal-Freaks das Betätigen der Luftgitarre, als sei er in seinem ureigenen Element. Er kennt den Habitus und den Jargon dieser Subkultur, und er hat die politisch-philosophischen Botschaften parat, die ihrem Lebensgefühl entsprechen. Immerhin kennt sich die FDP mit dem Verarbeiten von Scheitern ja auch aus. Doch noch immer sei eine „Mentalität der zweiten Chance“, so Lindner, in Deutschland unterentwickelt und finde sich nur in einer „Nische“.

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Beim Gesetzgeber wie bei Investoren habe sich noch nicht herumgesprochen, dass man bei der Beurteilung der Geschäftsidee eines Start-ups andere Maßstäbe anlegen müsse als bei der eines Handwerksbetriebs – wobei Lindner nicht hinzuzufügen vergisst, dass die Gründung eines solchen gerade in der jetzigen Zeit durchaus zu empfehlen sei. Wer sich in noch nicht erschlossene neue Märkte wage, könne nun einmal keine Erfolgsgarantien abgeben. Die Einsicht habe sich noch durchzusetzen: „Wenn von 100 innovativen Unternehmen 90 scheitern, zehn aber den Durchbruch schaffen, dann hat sich das bereits rentiert.“

Immer wieder Spitzen gegen alle anderen Parteien

Lindner selbst ging mit seiner Neugründung Moomax unter, als er 1999/2000 am Internetboom teilhaben wollte, mit der Entwicklung einer sprachgesteuerten Suchmaschine – damals noch ein visionäres Ziel, für das er gleichwohl einen Investor fand. Doch während er und seine Geschäftspartner noch ihren Businessplan abarbeiteten, platzte die Dotcom-Blase und es brach, so Lindner, „der atomare Winter der Start-up-Branche“ über Deutschland herein. Das Unternehmen ging in die Insolvenz.

Mit seiner allerersten Gründung, einer noch im Teenageralter ins Leben gerufenen PR-Agentur, war der spätere FDP-Chef erfolgreicher gewesen. Dass man aber mit dem Firmengründen gar nicht früh genug anfangen könne und dies höchster Ausdruck individuellen Freiheitsstrebens sei – diese Botschaft macht Lindner an diesem Abend zum bewunderten Sprachrohr der Sehnsüchte und Ambitionen seiner Zuhörer.

Nachher im Foyer, wo er dem Ursprungsmythos der Fuck-up-Bewegung gemäß an der Bierflasche nippt, ist er von hoch motivierten Fragestellern umringt. In seine wirtschaftspolitischen Ausführungen streut er Spitzen gegen „die sozialdemokratischen Parteien SPD, Union, Grüne und Linke“ und bemerkt, hierzulande gelte der Staat seit Hegel leider als die Verkörperung der Vernunft und nicht als ein Akteur mit dezidierten Eigeninteressen.

FDP mit bestem Wert seit fast vier Jahren

In der neuesten Umfrage kommen die Liberalen auf sieben Prozent. So gute Werte hatte die FDP zuletzt im Mai 2012. Bei den letzten Bundestagswahlen scheiterte die FDP an der 5-Prozent-Hürde.

Quelle: Die Welt

Das Verlassen des Hörsaalgebäudes auf dem Campus Westend der Johann-Goethe-Universität, dem ehemaligen Gelände der IG Farben, das später das Hauptquartier der US-Armee beherbergte, gerät für Lindner zum Spießrutenlauf. Etliche Fans wollen ein Foto mit ihm. Er gewährt es ihnen bereitwillig und immer strahlend. Für einen jungen FDP-Kommunalwahlkandidaten aus Hofheim zaubert er aus dem Stand ein druckreifes Videostatement zur Stimmabgabe für die Liberalen hervor.

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Explizit für die FDP die Trommel rühren musste Lindner bei dieser Veranstaltung indes gar nicht. Seine Wahlkampfbotschaft drang auch so durch: Die erneuerten Liberalen sind nicht mehr die verstaubte Honoratiorenriege, die den etablierten Großparteien als Mehrheitsbeschaffer dient. Sie sind jung, selbstbewusst und jener kreativen Veränderungs- und Risikobereitschaft gegenüber aufgeschlossen, die im konsens- und beharrungssüchtigen Deutschland noch immer mit Argwohn beäugt wird. Die Lindner-FDP möchte als politische Avantgarde einer neuen Kultur der Selbstständigkeit und Innovation erscheinen, die einstweilen im unteren Prozentbereich herumkrebsen mag, der aber die Zukunft gehört.

Im Wahlkampf missglückt die Dramarturgie ein wenig

Einen Tag später findet sich Lindner im Wahlkampfalltag wieder. Im badischen Denzlingen, einem eher gesichtslosen Städtchen von steriler Ordentlichkeit in der Nähe von Freiburg, könnte der Kontrast zum jung-dynamischen Aufbruchsgeist des Frankfurter Campus kaum größer sein. Hier besteht das Publikum, sieht man von den magentafarbig uniformierten Wahlkampfhelfern der Jungen Liberalen ab, fast ausschließlich aus Vertretern grauköpfiger Jahrgänge. Gleichwohl ist Lindner auch hier eine Attraktion. Der kleine Saal im Bürgerzentrum mit seinen etwa 150 Sitzen quillt über, Dutzende von Interessierten, die im Raum keinen Stehplatz mehr finden konnten, verfolgen die Veranstaltung im Foyer auf der Leinwand.

Eine etwas verunglückte Dramaturgie: Erst spricht Lindner etwa eine Dreiviertelstunde lang im Stile des Townhall-Meetings frei. Dann präsentieren sich Wahlkreiskandidaten, gefolgt von einer Ansprache des FDP-Landesvorsitzenden Michael Theurer. So kommt Hans-Ulrich Rülke, der Spitzenkandidat der Liberalen im „Ländle“, erst zu Wort, als sich die Zuhörerreihen schon drastisch gelichtet haben. Den landespolitischen Ausführungen des offensichtlich pikierten Rülke folgen nur noch die ganz Unentwegten. Spätestens, als Christian Lindner, der noch eine Weile zugehört hat, zum nächsten Termin aufbricht, ist an diesem Abend die Luft heraus.

"Müssen Schleppern das Handwerk legen"

Beim Treffen mit UN-Generalsekretär Ban Ki-moon äußerte sich Kanzlerin Merkel zur Zusammenarbeit mit der Türkei. Künftig wolle man sich mehr auf den Kampf gegen Schmuggler konzentrieren.

Quelle: Die Welt

Ein Zeichen nicht nur dafür, dass sein Charisma das Restpersonal der Partei zunehmend in den Schatten stellt. Sondern auch dafür, dass es bei den Landtagswahlen primär um das große Ganze geht und weniger um regionale Probleme. Lindner trägt dem Rechnung, indem er die Flüchtlingskrise in den Mittelpunkt seiner Rede stellt. Scharf kritisiert er Kanzlerin Merkel und die Bundesregierung für ihre „chaotische“ Asylpolitik. Ihre Entscheidung zur Grenzöffnung für Flüchtlinge sei zwar „legal“ gewesen, falsch aber sei es, daraus einen Dauerzustand zu machen.

Allerdings sei das keinerlei Rechtfertigung für den „pöbelnden Mob“ vor Flüchtlingsheimen, durch den die Krieg und Verfolgung entkommenen Menschen „zum zweiten Mal zum Opfer gemacht werden“. Es ist klar, wo Lindner die FDP in dieser zentralen Frage positionieren will: als Gralshüter eines „Wegs der Vernunft“, der die rationale Reduktion der Flüchtlingsströme mit der Ablehnung jedes Anflugs von Fremdenfeindlichkeit verbinden soll. Oder, wie Lindner mit seiner Vorliebe für Wortspiele gerne sagt, der „Rechtsstaatlichkeit statt Rechtspopulismus“ als Lösung anbietet.

Am heftigsten kritisiert Lindner die AfD

Der Liberalenchef surft dazu ein wenig auf der aktuellen Anti-Merkel-Stimmung, wenn er der Kanzlerin vorwirft, durch ihre Haltung Flüchtlinge angelockt und Deutschland in Europa isoliert zu haben. Zugleich besteht er aber wie sie auf einer europäischen statt auf nationalen Lösungen. Es gehe um die Wiedergewinnung der Kontrolle über die EU-Außengrenzen, denn ohne sie würden „die Schlagbäume innerhalb Europas niedergehen“.

Nicht ganz klar wird freilich, auf welchem anderen Weg als dem von Angela Merkel eingeschlagenen er dieses Ziel erreichen will. Stattdessen weicht Lindner ins Grundsätzliche aus und fordert ein klare Regeln setzendes Einwanderungsrecht, das mit der Realitätsverleugnung Schluss mache. Die Konservativen, die jahrzehntelang bestritten hätten, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei, bekommen ebenso ihr Fett weg wie der linke „naive Multikulturalismus“.

AfD bei Kommunalwahlen auf dem Vormarsch

Es waren in Hessen zwar nur Kommunalwahlen, aber die Stimmung ist eindeutig. Die AfD ist in viele Kommunalparlamente eingezogen. Vor den Landtagswahlen kein gutes Omen für die etablierten Parteien.

Quelle: Die Welt

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Beunruhigte Bürger sucht Lindner mitzunehmen, indem er das enorme bürgerschaftliche Engagement für die Flüchtlinge preist. Und doch auch betont, Integration sei keine Erwartung, die sich an die Bürger zu richten habe, sondern „zuerst an die Menschen, die zu uns kommen“. Umso heftiger unter Beschuss nimmt er aber die AfD, die keineswegs eine bürgerliche Kraft sei, sondern „ein anderes Deutschland“ der „autoritären Volksgemeinschaft“ wolle. Ihre Wortführer brächten „mehr Verständnis für Putin auf als für Obama“ und verbreiteten rassistisches Denken.

In Frankfurt hatte Lindner auf die Frage, ob er sich vorstellen könne, noch einmal ein Unternehmen zu gründen, geantwortet, er gedenke, noch sehr lange Politiker zu bleiben. Die einfachste Zeit hat er sich dafür nicht ausgesucht. Die anstehende Rückkehr der Liberalen auf die große politische Bühne fällt mit der wohl bisher schwersten Erschütterung der bundesdeutschen Demokratie und ihres europäischen Rahmens zusammen.

Die FDP muss sich als zusätzlicher Stützpfeiler dieser historischen Errungenschaften beweisen. Ob sich der bis an den Rand der Erschöpfung, aber sichtlich lustvoll wirbelnde Christian Lindner der Last dieser weit über das Wohl seiner liberalen Truppe hinausreichenden Verantwortung voll bewusst ist, wird er am besten selbst wissen.

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