Der ungarische Dauerpremierminister Viktor Orbán gilt als fussballbegeistert. Dass er auch zum zweiten EM-Spiel der ungarischen Nationalmannschaft nach Deutschland reiste, erstaunt daher nicht. Mit Fanschal um die Schultern saß er am Mittwochabend unweit von Bundeskanzler Olaf Scholz im Stuttgarter Stadion auf der Ehrentribüne und verfolgte das Spiel zwischen Ungarn und Deutschland – das mit 2:0 für das deutsche Team endete.
Die Niederlage seiner Ungarn kann man als Zeichen verstehen, dass Orbáns Pechsträhne anhält. Erst im Juni hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) Finanzsanktionen gegen die ungarische Regierung verhängt, weil diese europäische Asylregelungen nicht umsetzt. 200 Millionen Euro sollen gezahlt werden, eine Million Euro für jeden weiteren Tag, an dem Budapest ein EuGH-Urteil aus dem Jahr 2020 dazu nicht umsetzt.
Kurz zuvor bereits musste Orbán das schlechte Abschneiden seiner Partei Fidesz bei den Europawahlen hinnehmen. Von einem gar „historisch schlechten Ergebnis“ spricht gegenüber WELT Andreas Bock, Ungarn-Experte der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR). Mit 44,8 Prozent der abgegebenen Stimmen ist die Fidesz zwar immer noch die stärkste ungarische Partei, allerdings hat sie 7,7 Prozent verloren und kommt so nur noch auf elf Sitze im EU-Parlament. Für den erfolgsverwöhnten Orbán ist das ein herber Schlag.
Die relative Schwäche der Fidesz hat mit dem überraschenden Aufstieg Peter Magyars zu tun. Mit dem Mann, der sich als ehemaliger Fidesz-Insider vermarktet, ist in Ungarn ein konservativer Orbán-Gegner auf den Plan getreten, der Korruption im Staat anprangert und damit regelmäßig Zehntausende auf die Straßen holt. Es ist ein weiteres Ärgernis für den Premierminister.
Magyars Partei Tisza konnte aus dem Stand 29,6 Prozent der Wählerstimmen holen und so mit sieben Mandaten ins EU-Parlament einziehen. Während sich andeutet, dass Magyar sich der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) anschließen wird, ist die Fidesz in Brüssel nach wie vor fraktionslos und verfügt deswegen nur über geringen Einfluss. Überhaupt schwindet der europapolitische Einfluss Orbán: Wegen seiner Nähe zu Russland ist er weitgehend isoliert, gerade in Ostmitteleuropa, wo sich viele Regierungen durch Moskaus Überfall auf die Ukraine und dessen aggressive Politik besonders bedroht fühlen.
Mit dem Regierungswechsel in Polen im Dezember 2023 ist Orbán zudem sein wichtigster Partner weggebrochen. Polen zählt zwar seit jeher zu den lautesten Warnern vor Moskaus Politik, bei den Streitigkeiten mit der EU-Kommission und dem EuGH indes hat Warschau Budapest von 2015 bis 2023 stets Rückdeckung gegeben. Das ist jetzt vorbei.
Am Freitag also besucht ein geschwächter Orbán Kanzler Scholz in Berlin. Der dürfte seinen ungarischen Amtskollegen ermahnen, gerade in den nächsten Monaten die Interessen Europas im Blick zu behalten und gerade bei den Großthemen globaler Handel, Migration und nicht zuletzt der Ukraine-Unterstützung. Denn die ungarische Regierung übernimmt zum 1. Juli für sechs Monate den EU-Ratsvorsitz. Ihr kommt somit eine wichtige Rolle als Bindeglied zwischen einzelnen EU-Staaten und Verhandlungen auf EU-Ebene zu. Gleichzeitig könnte sie, wenn sie wollte, bestimmte Prozesse blockieren oder verlangsamen.
Ungarn zunehmend isoliert
Im Zentrum des Treffens werden laut dem Ungarn-Experten der Denkfabrik German Marshall Fund (GMF) Daniel Hegedüs europapolitische, weniger bilaterale Themen stehen. „Orbán möchte Scholz vor dem Beginn der ungarischen Ratspräsidentschaft persönlich versichern, dass seine Regierung nicht ausscheren und die Ratspräsidentschaft im Sinne der EU gestalten wird. Wichtig ist hier vor allem das Portfolio EU-Erweiterung um Moldau oder Georgien und natürlich die Ukraine“, erklärt er gegenüber WELT AM SONNTAG.
Andreas Bock vom ECFR hebt hervor, dass auch der Westbalkan für Orbán die Priorität sei. „Orbán geht es darum, seinen Freund Vucic in die EU zu holen“, sagt er. Der serbische Präsident Aleksandar Vucic betreibt wie Orbán eine Art „multivektorale“ Außenpolitik, bei der er sich Russland und auch China stark annähert.
Das Beispiel Serbien zeigt, dass Orbán in Europa durchaus noch einige Verbündete hat, auch wenn laut „Financial Times“ gerade erst die Bukarest 9, eine Gruppe von neun ostmittel- und südosteuropäischen Staaten, erwogen haben soll, Ungarn auszuschließen. Der Grund: Budapest soll die Ukraine-Politik des Forums blockiert haben. „Außenpolitisch ist Ungarn in Europa nicht gänzlich isoliert“, sagt Hegedüs. „Das liegt vor allem an der Slowakei, die der ungarischen Linie folgt, wenn auch nicht immer so deutlich.“
„Orbán geht es wahrscheinlich auch darum, Scholz zu einem Verbündeten bei der Freigabe von EU-Milliarden für Ungarn zu machen. Es ist fraglich, ob ihm das gelingt“, so Experte Bock.