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Ausland Rechtsstaats-Streit

EU vs. Polen und Ungarn – das sollten Sie wissen

Quelle: Montage: Infografik WELT
Der Kampf um Rechtsstaatlichkeit ist für viele Menschen ein abstraktes Thema – aber im Kern geht es um die Zukunft der Demokratie, auch der deutschen. Nun fiel ein wegweisendes Urteil. WELT erklärt die Zusammenhänge.
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Seit Jahren streitet sich die Europäische Union mit Polen und Ungarn über die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien. Der Konflikt mit Warschau ist in den vergangenen Monaten eskaliert, als das polnische Verfassungsgericht offen das EU-Recht infrage stellte. Auch Ungarn hat unter Ministerpräsident Viktor Orbán über das vergangene Jahrzehnt hinweg demokratische Grundsätze der EU ausgehöhlt, insbesondere die Unabhängigkeit der Justiz sowie der Medien.

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Bei solchen Verstößen sollen nun erstmals EU-Gelder zurückgehalten werden können – so sieht es der Rechtsstaatsmechanismus vor, den die Mitgliedstaaten Ende 2020 für den mehrjährigen EU-Haushalt beschlossen hatten. Doch Polen und Ungarn klagten dagegen vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Dieser hat die Klage am Mittwoch abgewiesen. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Rechtsstaatsmechanismus, was ist das?

Viele EU-Staaten wollen die Auszahlung von EU-Geldern an Bedingungen knüpfen. Verstößt ein Land gegen Rechtsstaatsprinzipien und schadet so den finanziellen Interessen der EU, etwa bei Korruption oder dem Missbrauch von EU-Geldern, können ihm Mittel aus dem europäischen Haushalt gekürzt werden. Der Mechanismus ist seit einem Jahr in Kraft und gilt auch für das milliardenschwere Corona-Wiederaufbaupaket, aus dem Polen 23,1 Milliarden und Ungarn 7,2 Milliarden Euro Corona-Hilfen bekommen sollen.

Warum befasst sich der EuGH damit?

Nachdem Ungarn und Polen gegen die neue Rechtsstaatsklausel geklagt hatten, haben die Obersten EU-Richter geprüft, ob sie zulässig ist. Denn der Europäische Gerichtshof in Luxemburg kontrolliert die Rechtmäßigkeit von EU-Gesetzen und entscheidet darüber, ob die europäischen Institutionen ihre Befugnisse überschreiten.

Außerdem sorgt das Gericht dafür, dass EU-Recht in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen angewendet wird. Dazu gehört, dass ein nationales Gericht dem EuGH Fragen zur Auslegung von europäischem Recht vorlegen kann. Dabei befasst sich der EuGH oft mit Fragen des Binnenmarkts oder der Freizügigkeit, aber er ist auch der Wächter der Grundrechte und Werte der EU – eine Funktion, die sonst ein Verfassungsgericht hat.

Welche Folgen kann das Urteil haben?

Dass der Gerichtshof die Klagen Polens und Ungarns abweist, galt als sehr wahrscheinlich. Bereits im Dezember hatte dies der EuGH-Generalanwalt empfohlen. Danach könnten Ländern wie Ungarn Mittel aus dem EU-Haushalt gekürzt werden. Der politische Druck ist hoch, dass die Europäische Kommission Härte zeigt und gegen jene Mitgliedstaaten vorgeht.

Nachdem der EuGH den Mechanismus nun für rechtskonform, wird sie bald handeln müssen. Vor allem Ungarn hätte dann mit Strafen zu rechnen, Fälle von Veruntreuung von EU-Geldern und Vetternwirtschaft im Umfeld von Viktor Orbán sind seit Langem bekannt.

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In Polen könnte die zunehmende politische Kontrolle der aktuellen Regierung über die Justiz zum Problem werden. Etwa wenn die polnische Justiz nicht mehr unabhängig prüfen kann, wohin die EU-Mittel fließen. Auch dann könnte der Rechtsstaatsmechanismus greifen. Allerdings gibt es weiterhin hohe Hürden, denn mindestens 15 der 27 Mitgliedstaaten, die mindestens 65 Prozent der Bevölkerung in der EU ausmachen, müssen zustimmen, dass er zum Einsatz kommt.

Welche Instrumente nutzte die EU bisher?

Setzt ein Land ein EU-Gesetz nicht um oder ist ein nationales Gesetz nicht mit Unionsrecht vereinbar, kann die Kommission ein sogenanntes Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Wenn das nicht hilft, kann sie klagen, dann entscheidet der EuGH und kann finanzielle Sanktionen verhängen, etwa wenn ein Land einem Urteil des EuGH nicht nachkommt.

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Jüngstes Beispiel ist die Verhängung einer Strafe von einer Million Euro pro Tag gegen Polen, weil sich das Land weigert, bestimmte Befugnisse der polnischen Disziplinarkammer für Richter auszusetzen.

Spielen die Mitgliedstaaten denn keine Rolle?

Eigentlich schon. Das Gremium der Mitgliedstaaten ist der Europäische Rat, wo die gewählten Vertreter der Nationalstaaten ihre Entscheidungen treffen. Wichtige Fragen wie die Aussetzung von Stimmrechten wegen Rechtsstaatsverstößen müssten dort einstimmig beschlossen werden. Polen und Ungarn stützen sich aber gegenseitig und blockieren solche Beschlüsse. Gerade das aber soll der Rechtsstaatsmechanismus ändern.

Ist die regelmäßige Kritik am EuGH gerechtfertigt?

Die Urteile des EuGH haben nicht nur sehr praktische Auswirkungen, mit seiner Rechtsprechung gestaltet er EU-Recht ganz wesentlich mit und gilt daher als „Motor der europäischen Integration“. Ebendiese Rolle sehen einige Verfassungsrechtler kritisch, weil die Weiterentwicklung des Rechts über die Rechtsprechung wenig transparent und nur für Experten sichtbar und nachvollziehbar sei. Außerdem werde der EuGH zunehmend politisiert.

Der Vorwurf: Der EuGH fungiere als Verfassungsgericht, ohne dass die EU ein Verfassungsstaat sei. Dass EU-Kommission und Gerichtshof auf die rechtsstaatlichen Fehlentwicklungen in Polen und Ungarn reagieren, verleiht ihnen mehr politische Macht.

Kommt die Kritik nur aus Osteuropa?

Nein, dass der Einfluss des EuGH wächst, wird auch in Deutschland kritisiert. Ein prominenter Kritiker ist der frühere Verfassungsrichter Dieter Grimm. Im WELT-Interview bezeichnete er die Anwendung von EU-Recht durch den EuGH „quasi als Verfassungsvollzug“, und zwar an Rat und EU-Parlament vorbei, also „außerhalb der demokratischen Prozesse“.

Wie mächtig ist der EuGH?

Mächtiger als viele Menschen in Europa denken. Urteile des Europäischen Gerichtshofs sind verbindlich und haben Vorrang vor nationalem Recht. Es gibt verschiedene Verfahren: So können nationale Gerichte dem EuGH Fragen zur Interpretation des EU-Rechts vorlegen. Sie müssen sich dann an das Urteil des obersten europäischen Gerichts halten, so auch das deutsche Bundesverfassungsgericht.

Das Verhältnis zwischen Karlsruhe und Luxemburg ist jedoch nicht ganz ohne Spannungen. So stellte Karlsruhe zuletzt die Rechtmäßigkeit eines EuGH-Urteils zu Staatsanleihenkäufen der Europäischen Zentralbank infrage. In Polen wurde dies vielfach als Beleg genommen, dass man auch in Deutschland den Primat des EU-Rechts infrage stellt. Das Verfassungsgericht in Karlsruhe betont aber, dass es sich beim EZB-Urteil um eine Ausnahme gehandelt habe und dass in aller Regel europäisches Recht gelte.

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Anders verhält es sich bei Polens Verfassungsgericht, das vor einigen Monaten ganze Bestimmungen der EU-Verträge für unvereinbar mit der polnischen Verfassung und damit für ungültig erklärte. Dass sich der Streit zwischen Karlsruhe und Luxemburg mittlerweile in Wohlgefallen aufgelöst hat, als die EU-Kommission im Dezember beinahe unbemerkt ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland fallen ließ, zeigt, dass der Konflikt mit Polen auf einem ganz anderen Blatt steht.

Sind auch Privatpersonen von EuGH-Urteilen betroffen?

Vielen ist nicht klar, wie sehr sich Urteile des Gerichtshofs in Luxemburg auf ihr tägliches Leben auswirken. Der EuGH entscheidet bei Fragen, die die Freizügigkeit, die soziale Sicherheit der Arbeitnehmer und die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Arbeitsleben betreffen. Viele Fälle von Alters- oder Geschlechterdiskriminierung in der Arbeitswelt wurden in Luxemburg entschieden.

Andere Beispiele betreffen den Verbraucherschutz: Setzt ein Mitgliedsland EU-Recht nicht um oder schränken nationale Gesetze den Waren- oder Dienstleistungsverkehr in der EU unzulässig ein, können sowohl Einzelpersonen als auch Unternehmen vor dem obersten EU-Gericht klagen.

Beispielsweise entschied der EuGH 2017, dass Dextro Energy Glucose nicht mit einer positiven Wirkung für den Energiestoffwechsel bewerben darf. In einem anderen Fall urteilte der Gerichtshof 2012, dass Online-Flugportale ihren Kunden beim Ticketkauf nicht automatisch eine Reiserücktrittsversicherung verkaufen dürfen.

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